Schmidt liest Proust
Montag, 24. Juli 2006

S.105-126

Heute habe ich einen Brief gelesen, den die erste Besitzerin des Hauses, in dem ich zur Zeit bin, 1917 geschrieben hat (1919 erscheint Band 2 der "Recherche"). Sie schildert einem Onkel ihre Pläne für den Garten und das Haus, das sie erst noch bauen muß. Sie wolle Arbeit und Leben verbinden, schreibt sie (sie war Gärtnerin). Der Garten unterteilt sich in Nutz-, Muße- und reine Natursphären, reine Nutzgärten sind scheußlich öde. Das Haus ist so geschickt gebaut, daß man immer eine kühle Ecke findet, und jeder Gegenstand steht seit mindestens 80 Jahren am selben Platz (das ist eigentlich auch der einzige Zweck, den Gegenstände haben). Man müßte hören könnte, was die Menschen auf den Fotos aus der Zwischenkriegszeit reden, die man hier in den Alben findet. Unmöglich, sich in sie hineinzuversetzen. Von uns wird es in 70 Jahren viel Videomaterial geben, was bedeutet das für die Literatur?

S.105-126 Mehr über Bloch, der einmal, als er regennaß eintrifft, auf die Frage von Marcels Vater, wie das Wetter sei, antwortet: "Ich kann Ihnen absolut nicht sagen, Monsieur, ob es geregnet hat. Ich lebe so entschieden außerhalb all dieser physischen Bedingungen, daß meine Sinne sich nicht mehr die Mühe machen, sie auch nur zu registrieren." Aber kaum betritt so ein interessanter Mensch den Roman, wird ihm wegen einer kleinen Indiskretion von Marcels Eltern für immer "die Tür gewiesen". Man kann froh sein, daß die großen Romane nicht von den Eltern der Autoren geschrieben wurden. (Daß ich Marcel hier Marcel nenne, ist natürlich nicht ganz korrekt, er hat sich selbst noch keinen Namen gegeben. Ich glaube, der Name Marcel fällt im ganzen Buch nur dreimal, und bald werde ich wissen, wo.) Ein Schriftsteller namens "Bergotte" fasziniert Marcel, und ich habe noch nie von ihm gehört. Aber es geht ja auch nicht um Bergotte, den man sicher bei Wikipedia findet, sondern um die Faszination für Bergotte, die man sich gut vorstellen kann, auch ohne ihn zu kennen. Als Marcel hört, daß Monsieur Swanns Tochter mit Bergotte "gemeinsam alte Städte, Kirchen und Schlösser aufsucht", verliebt er sich in Mademoiselle Swann, ohne sie je gesehen zu haben. "Unser Glaube, daß ein Wesen an einem unbekannten Leben teilhat, in das seine Liebe uns mit hineintragen würde, ist unter allem, was die Liebe zu ihrer Entstehung braucht, das Bedeutungsvollste, dem gegenüber alles andere nur noch wenig ins Gewicht fallen kann." Der Pfarrer besucht die Tante und langweilt uns mit seinen Kenntnissen der örtlichen Kirchengeschichte. Er erörtert die Vorteile der Aussicht vom Glockenturm von Saint-Hilaire gegen die vom Glockenturm von Jouy-le-Vicomte und schließt: "Das beste wäre, man könnte gleichzeitig auf dem Turm von Saint-Hilaire und in Jouy-le-Vicomte sein." Solche bösartige Bloßstellung der Dummheit ist eigentlich Flaubert, und man fragt sich, warum Proust sie sich nur so selten gönnt. Vielleicht dachte er, es sei schädlich für sein Buch, zuviel Witz zu entfalten. "Wir sind sehr langsam darin, in der besonderen Physiognomie eines neuen Schriftstellers das Modell mit der Aufschrift 'große Begabung' im Museumsbestand unserer Allgemeinvorstellungen herauszukennen", sagt Proust, und meint sicher sich selbst. Aber der Satz hat natürlich bis heute seine Gültigkeit behalten.

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