Schmidt liest Proust
Donnerstag, 20. Juli 2006

S.44-65

Als Proust sich eine Seite nimmt, um das Aussehen der getrockneten Lindenblüten zu beschreiben, die seine Tante sich zum Tee aufzugießen pflegte, überlege ich zum ersten mal, ob ich ein paar Zeilen überspringe. Aber das geht nicht, es ist wahrscheinlich das letzte mal in meinem Leben, daß ich "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lese, da muß ich es auch richtig tun. Ich habe auch die drei Seiten über den Klang der Stimme seiner Mutter beim Vorlesen durchgestanden. Bei der Tour de France kann man auch nicht einfach ein Teilstück auslassen. Immerhin drängt sich der Verdacht auf, daß der Roman autobiographisch ist. Seine Mutter pflegte also beim Vorlesen die Liebesszenen zu überspringen. Woher weiß er das? Sollte man auch alle seine Kinderbücher noch einmal lesen, um zu prüfen, welche Stellen einem die Eltern beim Vorlesen vorenthalten haben? Auf Seite 49 der erste Höhepunkt des Buchs, die dicken, ovalen Sandtörtchen, die man "Petites Madeleines" nennt, tauchen auf und sorgen mit dem Geschmack des Lindenblütentees dafür, daß Marcel spürt, "wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat." Diesem so intensiven, wie flüchtige Erinnerungsschock forscht er in seinem Bewußtsein nach und fördert vermutlich das ganze nächste Kapitel zutage, wenn nicht sogar die restlichen sieben Bände. Wenn die Menschen tot sind, werden: "Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen." Es ist wie mit der Mona Lisa, weil man so viel über diese Madeleine gehört hat, bewegt es einen gar nicht richtig, sie endlich zu lesen. Besser sind kleine Taktlosigkeiten, etwa, wenn es von der Tante heißt: "Sie sprach immer nur gedämpft, denn sie glaubte in ihrem Kopf etwas Zerbrochenes und Gelockertes zu verschieben, wenn sie die Stimme zu sehr erhob." Und hier ist auch von mir die Rede, auch wenn es angeblich immer noch um die Tante geht: "...außerdem widmete sie infolge der absoluten Tatenlosigkeit, in der sie ihre Tage verbrachte, ihren geringsten Empfindungen eine ungebührliche Aufmerksamkeit und entdeckte an ihnen eine Wandlungsfähigkeit, die es ihr schwer machte, sie ganz für sich zu behalten, so daß sie, wenn kein anderer Zuhörer da war, zu dem sie davon sprechen konnte, sich selbst darüber auf dem laufenden hielt, in einem ständigen Monolog, der ihre einzige Form der Bestätigung war." Und es gibt auch ein erstes Forschungsergebnis, das auf meine Kappe geht, denn bisher habe ich in der Proust-Forschung noch nichts über den folgenden Lapsus gelesen: auf Seite 59 heißt es, die Dienerin Francoise habe "eine blendend weiße Haube, die so starr und zerbrechlich ihren Kopf umstand, als wäre sie aus gesponnenem Zucker gemacht." Zwei Seiten weiter wird von einer "Haube, deren schimmernde, steife Fältelung wie aus Biskuit gemacht wirkte" gesprochen. "Gesponnener Zucker" oder "Biskuit"? Vielleicht muß Proust noch einmal neu gelesen werden.

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