Schmidt liest Proust
Freitag, 21. Juli 2006

S.65-85

"Wie liebte ich diese Kirche und wie deutlich sehe ich sie noch vor mir!" Hätte ich die folgenden zehn Seiten gewissenhaft gelesen, würde ich das vielleicht auch tun. Und das nach der Erfindung der Fotografie! Ich kann ihn ja völlig verstehen, wenn ich den Fleiß und die Energie aufbringen würde, würde ich die Orte meiner Kindheit, wie die Konsum-Kaufhalle in Berlin-Buch genauso ausführlich beschreiben, aber ich bezweifle, daß ich dafür einen Verleger finden würde. Ob Proust der erste war, der in der Literatur mit Absencen gearbeitet hat? Wie muß man sich ein Literaturinstitut vorstellen, in dem die Jungautoren darin unterrichtet werden, sich ihren Tagträumereien zu widmen, zumal, wenn deren Gegenstand rein "autobiographisch" ist? Der Glockenturm von St.Hilaire, die zweite Madeleine, überall begegnet er Marcel wieder. Wenn er in einer Provinzstadt oder in Paris nach dem Weg fragt und jemand zur Orientierung auf irgendeinen Turm in der Ferne weist: "...so wird, wofern meine Erinnerung auch nur den geringsten an jene teure entschwundene Gestalt gemahnenden Zug an ihm findet, der Fremde, wenn er sich noch einmal umblickt, um sich zu überzeugen, daß ich nicht fehlgegangen bin, mit Staunen bemerken, wie ich in völligem Vergessen des geplanten Spaziergangs, der dringenden Besorgung stundenlang unbeweglich im Bemühen des Erinnerns vor dem Glockenturm stehe, da ich auf dem tiefsten Grund meines Innern wiedereroberte Gebiete spüre, deren Untergrund schon trocken wird und zum Wiederaufbau bereit; sicherlich suche ich dann, viel eifriger als eben noch, da ich ihn um Auskunft bat, meinen Weg, ich biege in eine Straße ein... aber ... in meinem Herzen..." Es wird Zeit, ein Inventar verloren gegangener Tätigkeiten, die der Roman archiviert, anzulegen, vielleicht nenne ich es "Praxis": - ein Dorf-Faktotum, das von Zeit zu Zeit "die Wäsche des Pfarrers ausbessert." Oder: - "Ich blieb dann bei meinem Onkel, bis sein Kammerdiener ihn im Auftrag des Kutschers fragen kam, zu welcher Stunde angespannt werden sollte." Ob ich in meinem Leben je anspannen lassen werde?. Die hypochondrische Tante wird mir langsam sympathisch, sie verabscheut zwei Sorten Menschen, die einen, die "die umstürzlerische Meinung vertraten, daß ein kleiner Spaziergang in der Sonne oder ein englisches Beefsteak (wo doch schon zwei armselige Schluck Vichywasser sie vierzehn Stunden lang im Magen drückten) ihr sehr viel besser tun würden als das Liegen im Bett und die Medizin", noch schlimmer sind aber die anderen, "die so aussahen, als hielten sie sie für weit ernstlicher krank, als sie selber meinte, nämlich so krank, wie sie zu sein behauptete." Es ist sicher schwer, es sich mit Hypochondern nicht zu verderben: "Meine Tante verlangte gleichzeitig, daß man ihre Lebensweise guthieß, daß man sie um ihrer Leiden willen beklagte und sie dennoch völlig beruhigt in die Zukunft blicken ließ." Mich so zu behandeln ist immer die Aufgabe meiner Mutter gewesen.

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