Schmidt liest Proust
Samstag, 27. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 427-447 (Schluß)

  • Was ham wirn heute gemacht?
  • Ich hab mich mit Mama gestreitet, da hat sie eine schlechte Laune.
  • Und dann?
  • Du weißt doch, ich war im Kindergarten, da hab ich eingepullert, aber nur ein bißchen, is nich schlimm, da hat Heike mir einen neuen Schlüpfer und neue Strumpfhosen gegeben und dann ham wir Appepip gesagt, dann hat Heike "Ärmel" gesagt, die man zum Essen hochkrempelt, dann is Papa gekommen, dann hab ich mit der Matti im Flur kurz ganz viel gedrückt, dann sind wa umgefallen, hat nich wehgetan, war nur ein Spaß, war lustig, dann sind wa losgegangen zum Spielplatz, da waren die frechen Jungs, der eine Junge hat mir gehaut, und der andere hat mir umgeschubst auf dem Trampolin drin, dann bin ich auf dem Hochklettergerüst gestiegen, dann sind wa zum Puppentheater gegangen, da war aber nicht auffen, dann ham wa ein Zopfeis gegessen und Papa hat ein Kaffee getrunken, der is aber nur für Gewachsene, dann sind wa nach Hause gegangen, dann hab ich mich noch kurz im Flur gedreht, dann war ich eine Bummelliese, dann haben wa uns ausgezogen, dann hab ich Zähne geputzt mit Zahnputze, dann hast du mir den Schlafanzug angezogen, dann hast du mir das Buch vorgelesen mit dem Krokodil, wo alles falschrum ist, und jetzt laß mich mal bitte gucken, ich will auch mal was aufschreiben in dein Buch, laß mich mal ein bißchen in Ruhe, siehste, klappt doch.
  • Soll ich die Tür noch ein bißchen auflassen?
  • Ja.
  • Gute Nacht.
  • Gute Nacht.

Seite 427-447 (Schluß) Die sechzehnjährige Tochter Gilbertes wird ihm vorgestellt, die er noch nie gesehen hat. Die Zeit "hatte sie wie ein Meisterwerk geformt". Sie "sah meiner Jugend gleich". Außerdem hat sie ja Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Saint-Loup "was alle, die ihren Vater gekannt hatten, zu langen Träumereien bewog." Diese Materialisierung der verflossenen Jahre in einer jungen Person ist nur noch ein weiterer Anstoß zu der Überlegung "daß dieses Leben, das man unaufhörlich fälscht, in einem Buch verwirklicht werden könnte..." Denn, was wir unser Leben nennen, ist nur eine unaufhörliche Fälschung der wirklichen Version, die wir eigentlich in uns spüren, und der man nur in einem Buch Gerechtigkeit widerfahren lassen kann! "Wie glücklich würde der sein, dachte ich, der ein solches Buch zu schreiben vermöchte, doch welche Arbeit liegt auch vor ihm." Eine Arbeit, die alle erdenklichen Kulturleistungen des Abendlandes zusammenführt und erforderlich macht, man muß es nämlich "unter unaufhörlicher Umgruppierung der Kräfte wie eine Offensive vorbereiten" (als Feldherr), "es ertragen wie die Qual der Ermüdung" (als Märtyrer), es "wie eine Ordensregel auf sich nehmen" (als Asket), es "wie eine Kirche erbauen" (als Architekt), "ihm folgen wie einer ärztlichen Weisung" (als Patient), "es überwinden wie ein Hindernis" (als Entdecker), "es erobern wie eine Freundschaft" (als soziales Wesen), "es pflegen wie ein Kind" (als Mutter), "es schaffen wie eine Welt" (als Künstler/Demiurg). Und dabei muß man auch noch alles andeuten, was von Menschen nicht erkannt werden kann.

Wie kann das gehen? Z.B. unter Obhut der zwar schon fast blinden, aber mit einer Intuition für Marcels Werk ausgestatteten Françoise, vielleicht sogar genau in der Art, wie diese "ein Kleid entstehen läßt." So würde er das Buch zusammenflicken und ausbessern. Aber "war es wirklich noch Zeit und war ich selbst noch imstande dazu?" Man darf ja nicht vergessen, daß der Autor zwar an der Schreibmaschine arbeitet, aber als Gefäß für seinen Geist nur einen vergänglichen Organismus besitzt: "Man mußte in der Tat davon ausgehen, daß ich einen Körper hatte." Traurige Tatsache. "Einen Körper zu haben aber ist die große Bedrohung für den Geist..." Man fühlt sich in seinem Körper nicht mehr wohl, wenn man das Werk, das man schaffen will, schon vor sich sieht, und fürchten muß, jederzeit auf den Champs-Elysées von einem Ast erschlagen zu werden oder beim Durchschwimmen des Atlantiks zu ertrinken. Oder, als ich heute mit dem Fahrrad auf die Torstraße bog und ein Laster mit Anhänger haarscharf an mir vorbeiraste. Es war mein Proust-Kommentar, für den ich erschrak, weil er so kurz vor dem Ziel unvollendet geblieben wäre. "Daß ich mich als Träger eines Werkes fühlte, machte jetzt einen Unfall, bei dem ich den Tod finden könnte, fürchtenswerter für mich, ja [..] geradezu absurd." Deshalb hat Heiner Müller auf Flugreisen immer unbeendete Manuskripte mitgenommen, weil ihm dann ein Absturz unwahrscheinlicher erschien. Man hat vielleicht die Ohmnacht vor blinder Barbarei noch nicht verstanden, wenn man noch glaubt, Werke würden vom Schicksal verschont. Wir denken das, weil wir nur kennen, was erhalten ist, und man sich nicht vorstellen kann, daß viel bedeutenderes fehlt. "Noli perturbare circulos meos" kann vielleicht als paradoxe Reaktion bei manchen Angreifern Verwirrung auslösen, so daß man Zeit gewinnt, aber die Schwerkraft, oder die Zeit werden sich davon nicht beeindrucken lassen.

Niemand anders kann die Arbeit tun, die vor ihm liegt. Das ist vielleicht doch ein Unterschied zu anderen Arbeiten, die aktuellen Top 10 könnte auch jeder andere füllen, auch die Spiegel-Bestsellerliste könnte jeder andere vollschreiben, Journalisten wird ja sogar beigebracht, einen austauschbaren Stil zu pflegen. Aber die "Recherche" kann nur einer schreiben. Umso größer die Angst vor einem Gehirnschlag. So, wie man ja auch, wenn man liebt, das Ende dieser Liebe fürchtet, weil es sich erst einstellen kann, wenn man selbst ein anderer geworden ist. Selbst das Abklingen einer unglückliche Liebe bedeutet so einen Tod.

Also schnell an die Arbeit! Aber wieviele Werke muß man hinter sich auftürmen, um das Verhältnis zwischen verlorener Lebenszeit und erbrachter Leistung halbwegs ausgeglichen zu halten? Was für eine heroische Geduld, sich nicht in Aktivitäten zu verlieren, sondern zu warten, bis alles in einem gereift ist. Wobei Marcel hier seine Trägheit zuhilfe gekommen ist, die ihn "vor allzu leichtem Schreiben geschützt hatte." Und man ist einsam! "Niemand verstand das Geringste davon". Man vernachlässigt seine sozialen Pflichten, man ist einfach nicht mehr in der Lage, Briefe zu beantworten. Man wird mißverstanden, es wird einem unterstellt werden, man grabe "nach Einzelheiten", wo man "große Gesetze" sucht.

Und auch die Bücher, die man abergläubisch liebt, sind keine Führer. Man kann "was man liebt nur wiedererschaffen, indem man ihm entsagt." Nicht einmal der Verstand ist immer ein guter Wegweiser. Denn man muß die Töne an die richtige Stelle setzen und sich enthalten "sie von ihrer Ursache loszulösen, der unser Verstand sie nachträglich koordiniert." Es gilt "tiefer in mich selbst hinabzusteigen." (Wie oft hört man als Autor: "Du mußt von dir loskommen." "Denk dir mal was aus." "Du interessierst niemanden." "Die jungen Autoren kreisen nur um ihr Ich".)

"Weil aber die Menschen in dieser Weise noch alle Stunden der Vergangenheit enthalten, können sie denen, die sie lieben, so viel Leid antun, denn damit hegen sie in ihrem Innern auch viele Erinnerungen an Freuden und Wünsche, die für sie schon ausgelöscht sind, aber so grausam noch für den, der den geliebten Leib, um dessentwillen er an Eifersucht krankt – an einer solchen Eifersucht, daß er seine Zerstörung wünscht – betrachtet und in seiner gesamten Erstreckung über die Ebene der Zeit erblickt." Schlechte Aussichten für eine späte Altersheimromanze, es sei denn, die Frau wäre vorher noch nie verliebt gewesen.

Er ist also verurteilt, nicht nur tiefer in sich hinabzusteigen, sondern sich an alles zu erinnern, denn sein Werk wird "die durch das Gedächtnis vollzogene Wiederschöpfung von Eindrücken" sein. Bei dieser Vorstellung aber befällt ihn schon jetzt "ein Gefühl der Ermüdung und des Grauens". Es ist, als habe sich die Zeit unter ihm abgelagert, der er "auf ihrem schwindelnden Gipfel hockte und mich nicht rühren konnte". Deshalb bewegen sich alte Menschen so zittrig, als ob sie "alle auf lebendigen, unaufhörlich wachsenden, manchmal mehr als kirchturmhohen Stelzen hockten, die schließlich das Gehen für sie beschwerlich und gefahrvoll machten, bis sie plötzlich von ihnen herunterfielen."

Verlorene Praxis: - Jene Barbarenfeste besuchen, die man als Abendessen in der Stadt bezeichnet.

  • Ein Werk schreiben, das wie eine Kirche ist, in der die Gläubigen nach und nach Wahrheiten entdecken und Harmonien und den großen Plan erkennen, der dem ganzen zugrunde liegt.
  • Ein Werk schreiben, das wie ein Druidenmal auf dem Gipfel einer Insel für immer unbesucht dastehen wird.
  • Dem Beifall der jetzt lebenden Elite völlig indifferent gegenüberstehen.
  • Soweit man die Bewegung seiner Lippen noch verspürt, ein kleines Lächeln in einem winzigen Winkel seines Mundes zustande bringen, wenn eine Dame einem schreibt: "Ich war sehr erstaunt, keine Antwort auf meinen Brief zu erhalten."
  • Versuchen, seine gegenwärtige Liebenswürdigkeit noch auf der Höhe derjenigen zu halten, die andere Leute für einen aufwenden.
  • Sich nicht ohne Grauen ein Werk vorstellen können, das von seinen Lieblingsbüchern verschieden ist.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Wie viele gewaltige Kathedralen bleiben unvollendet!"

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