Schmidt liest Proust |
Mittwoch, 24. Januar 2007
Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 367-388 jochenheißtschonwer, 24.01.07, 23:40
Das schöne an Kindern ist, daß man ihretwegen wieder seine alten DDR-Märchenplatten hört, auf denen die besten Schauspieler von damals, also Namen wie Fred Düren, Rolf Ludwig, Klaus Piontek, Elsa Grube-Deister, Kurt Böwe, Dieter Mann, Dietrich Körner, Jutta Wachowiak, etc. sprechen, deren Stimmen, weil man sie so früh gehört hat, einem auf eine wohlige Art direkt ins Unterbewußte gleiten, wie Musik oder Alkohol. Außerdem ist man endlich in dem Alter, den eigentlichen Sinn dieser Märchen zu verstehen: Der Froschkönig oder der eiserne Dan In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal ein Meßingenieur, der hatte eine wunderschöne Tänzerin als Tochter. Sie war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles schon gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien, also natürlich vor allem, wenn das Mädchen mit seiner Firma wieder einen Job in Saudi-Arabien oder Pakistan hatte. Nahe bei dem Haus war der Humboldthain, und mitten darin, unter einer von den Miniermotten zerfressenen Kastanie, war ein Gully. Wenn nun der Tag recht heiß war, ging die junge Tänzerin in ihrem Tiger-Top hinaus in den Humboldthain und setzte sich an den Rand des kühlen Gullys. Und wenn sie Langeweile hatte, nahm sie einen Tischtennisball, warf ihn in die Höhe und fing ihn wieder auf. Das war ihr liebstes Spiel. Nun trug es sich einmal zu, daß der Tischtennisball der Tänzerin gerade in den Gully hineinrollte. Und der war tief, so tief, daß man keinen Grund sah. Da fing die Tänzerin an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Als sie so klagte, rief ihr plötzlich jemand zu: »Was hast du nur, Tänzerin? Du schreist ja, daß sich ein Stein erbarmen möchte.« Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken, häßlichen Kopf aus der Jauche streckte. »Ach, du bist's, alter Wasserpatscher«, sagte sie. »Ich weine über meinen Tischtennisball, der mir in den Gully hinabgefallen ist, ein Drei-Sterner!« »Sei still und weine nicht«, antwortete der Frosch, »ich kann wohl Rat schaffen. Aber was gibst du mir, wenn ich deinen Tischtennisball wieder heraufhole?« »Was du haben willst, lieber Frosch«, sagte sie, »meine Klamotten, meinen i-Pod, Glitzersteine, auch noch das Porsche-Schlüsselband, das ich trage.« Der Frosch antwortete: »Deine Klamotten, deinen i-Pod, die Glitzersteine und dein Porsche-Schlüsselband, die mag ich nicht. Aber wenn du mich liebhaben willst und ich dein Geselle und Spielkamerad sein darf, wenn ich an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem Stullenbrett essen, aus deiner Campari-Flasche trinken, auf deiner Matratze schlafen darf, dann will ich hinuntersteigen und dir den Tischtennisball heraufholen.« »Ach, ja«, sagte sie, »ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur den Tischtennisball wiederbringst.« Sie dachte aber, der einfältige Frosch mag schwätzen, was er will, der glaubt doch selber nicht, was er sagt. Als der Frosch das Versprechen der Tänzerin erhalten hatte, tauchte er seinen Kopf unter, sank in die Jauche, und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert, hatte den Tischtennisball im Maul und warf ihn ins Gras. Die Tänzerin war voll Freude, als sie ihr schönes Spielzeug wiedererblickte, hob es auf und sprang damit fort. »Warte, warte!« rief der Frosch. »Nimm mich mit, ich kann nicht so schnell hüpfen wie du!« Aber sie hörte nicht darauf, eilte nach Hause und hatte den Frosch bald vergessen, denn es rief ja ständig jemand auf ihrem Handy an. Am andern Tag, als sie sich mit dem Vater und ihren vielen Freunden zur Tafel gesetzt hatte und eben frühstückte, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas den Hausflur entlanggekrochen. Als es oben angelangt war, klingelte es und rief. »Tänzerin, mach mir auf« Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre. Als sie aber aufmachte, saß der Frosch vor der Tür. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und es war ihr ganz ängstlich zumute, der Frosch hätte ja wenigstens mal vorher anrufen können. Der Meßingenieur sah wohl, daß ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach: »Ei, was fürchtest du dich? Steht etwa die GEZ vor der Tür und will dich holen?« »Ach, nein«, antwortete sie, »es ist nicht die GEZ, sondern ein garstiger Frosch.« »Was will der Frosch von dir?« »Ach, lieber Vater, als ich gestern im Humboldthain bei dem Gully saß und spielte, fiel mein Tischtennisball in die Jauche. Als ich deshalb weinte, hat ihn mir der Frosch heraufgeholt. Und weil er es durchaus verlangte, versprach ich ihm, er sollte mein Spielgefährte werden. Ich dachte aber nimmermehr, daß er aus seiner Jauche käme. Außerdem bin ich über meine letzte Beziehung noch nicht hinweg. Nun ist er draußen und will zu mir herein. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich ihm nie meine Adresse gegeben!« Da klopfte es zum zweiten Mal, und eine Stimme rief: »Tänzerin, mach mir auf!" Da sagte der Meßingenieur: »Was du versprochen hast, das mußt du auch halten! Geh nur und mach ihm auf! Schönheit ist vergänglich, auf die Dauer kommt es auf andere Eigenschaften an. Außerdem bin ich deiner Mutter damals auch nachgelaufen, sonst gäbe es dich jetzt gar nicht.« Sie ging und öffnete die Tür. Da hüpfte der Frosch herein und hüpfte ihr immer nach bis zu ihrem Stuhl. Dort blieb er sitzen und rief: »Heb mich hinauf zu dir!« Sie zauderte, bis es endlich der Meßingenieur befahl. Als der Frosch auf dem Stuhl war, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er: »Nun schieb mir dein Stullenbrett näher, damit wir zusammen essen können.« Der Frosch ließ sich's gut schmecken, ihr aber blieb fast das Joghurt-Müsli im Halse stecken. Endlich sprach der Frosch: »Ich habe mich satt gegessen und bin müde. Nun trag mich in dein Kämmerlein und mach deine Matratze zurecht!« Die Tänzerin fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie sich nicht anzurühren getraute und der nun auf ihrem schönen neuen Spannlaken schlafen sollte. Außerdem mußte sie morgen früh raus. Der Meßingenieur aber wurde zornig und sprach: »Wer dir geholfen hat, als du in Not warst, den sollst du hernach nicht verachten!« Da packte sie den Frosch mit zwei Fingern, trug ihn hinauf in ihr Kämmerlein und setzte ihn dort in eine Ecke. Als sie sich eine halbe Stunde die Zähne geputzt hatte, war er immer noch da, und als sie im Bette lag, kam er gekrochen und sprach: »Ich will schlafen so gut wie du. Heb mich hinauf, oder ich sag's deinem Vater!« Da wurde sie bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn gegen die Wand. »Nun wirst du Ruhe geben«, sagte sie, »du garstiger Frosch!« Als er aber herabfiel, war er kein Frosch mehr, sondern ein Schriftsteller mit schönen freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Er erzählte ihr, er hätte unter einer seltenen Erbkrankheit gelitten und niemand hätte ihn aus dem Gully erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Viertel zu den Steinplatten fahren und Tischtennis spielen. Und wirklich, am anderen Morgen kam ein Fahrrad herangefahren, mit 36 Gängen, buntem Lenkerband, Spritzschutz mit Katzenaugen und einem Sattel für Mädchen auf der Stange. Hinten auf dem Gepäckträger aber saß ein Kollege des jungen Schriftstellers, das war der treue Dan. Der treue Dan hatte sich so gekränkt, als sein Freund in einen Frosch verwandelt worden war, daß er drei eiserne Bänder um sein Herz hatte legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Das Fahrrad sollte nun den jungen Schriftsteller in sein Viertel holen. Der treue Dan hob ihn und seine junge Gemahlin hinauf, setzte sich wieder auf den Gepäckträger und war voll Freude über die Erlösung seines Freundes. Als sie ein Stück des Weges gefahren waren, hörte der Schriftsteller, daß es hinter ihm krachte, als ob etwas zerbrochen wäre. Da drehte er sich um und rief: »Dan, wir haben einen Platten!« »Nein, Freund, keinen Platten, Es ist ein Band von meinem Herzen/ Das da lag in großen Schmerzen/ Als Ihr in dem Gully saßt/ Als ihr eine Fretsche was't.« Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Schriftsteller meinte immer, sie hätten einen Platten. Doch es waren nur die Bänder, die vom Herzen des treuen Dan absprangen, weil sein Freund nun erlöst und glücklich war. Seite 367-388 Für Marcel soll es der letzte Abend in Gesellschaft sein. "Gleich morgen" will er sich zur Arbeit in die Einsamkeit zurückziehen. "Selbst in meine Wohnung würde ich in meinen Arbeitsstunden keine Leute vorlassen..." Das dumme ist ja, daß irgendwann sowieso gar keine mehr kommen... "Ich aber würde den Mut finden, denen, die mich besuchen würden oder mich abholen ließen, zu antworten, ich hätte wegen wichtiger Dinge, über die ich mich unverzüglich unterrichten müsse, ein dringendes, überaus bedeutsames Rendezvous mit meinem eigenen Ich." Und seltsamerweise werde einem die Bereitschaft zum Verzicht, die sich in solch einer Haltung äußert, als Egoismus ausgelegt. Dabei will er doch fern von den Menschen leben, "um mich mit ihnen zu beschäftigen", um "die Kurve zu definieren und das Gesetz herauszustellen, das die Gebärden, die sie machten, die Worte, die sie sagten, ihr Leben, ihre Natur bestimmte." "...leichte Liebesbegegnungen mit eben erblühten jungen Mädchen" würden die einzige "erlesene Nahrung" darstellen "die ich allenfalls noch meiner Einbildungskraft gestatten könnte, die somit jenem berühmten Pferde glich, das nur mit Rosen gefüttert werden durfte." Gilberte solle ihn doch hin und wieder einladen, wenn sie solche jungen Mädchen zu Besuch habe, allerdings würde er von diesen nur wollen, daß sie ihm "die Träumereien und Traurigkeiten von ehedem wiederschenkten, höchstens eines unwahrscheinlichen Tages einen keuschen Kuß." Der Reiz langer Serien, wie dicker Bücher, man kann die erstaunlichste Werdegänge inszenieren: die ehemalige Prostituierte Rahel ist inzwischen eine berühmte Schauspielerin geworden, für deren Rezitationen man sogar die Berma versetzt. Allerdings erkennt Marcel die "abscheuliche alte Frau", als die sich ihm Rahel darstellt, nicht sofort. Ein hinreißender Einschub illustriert die hoffnungslose Vereinsamung der großen Berma, zu deren Einladung niemand kommt, weil am selben Tag alle wie durch die Wirkung einer Saugpumpe zu den Guermantes gezogen werden, wo Rahel sprechen soll. Die todkranke Berma geht im übrigen wieder auf Tournee, um mit dem Honorar die Luxusbedürfnisse ihrer Tochter befriedigen zu können, die allerdings darin bestehen, ständig ihr neben dem der Berma gelegenes Haus ausbauen zu lassen, "unaufhörliche Hammerschläge unterbrachen daraufhin den Schlaf, den die große Tragödin so sehr nötig hatte." Unklares Inventar: - Die Balthy, die Mistinguett, die Réjane, Schauspielerinnen.
Verlorene Praxis: - Es für eine Form intellektueller Überlegenheit halten, leicht an Langeweile zu leiden.
Bewußtseinserweiterndes Bild: - "Die sterbenden Augen standen noch verhältnismäßig lebendig in der damit kontrastierenden furchtbaren Knochenmaske und glänzten schwach wie eine Schlange, die zwischen Felsen schläft."
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