Schmidt liest Proust
Dienstag, 16. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 207-227

Ach, es gäbe noch so viel zu sagen, aber es sind nur noch zehn Tage, und danach ist es zu spät. Aber die Dinge gewinnen doch ihren Zauber erst durch ihre Endlichkeit, man muß loslassen können.

Wird es mich in einem Jahr noch geben? Werde ich dann unter unwillkürlichen Tränenausbrüchen leiden und Tabletten brauchen? Oder werde ich plötzlich Luhmannianer sein? Werden mir die jungen Leute aus dem Weg gehen, weil ich nach Bitterkeit und Niedergang rieche? Oder wird sich ein akzeptables Gleichgewicht herstellen lassen? Oder kommt eine Physiotherapeutin mit Sinn für Sitcoms, Proust, sowjetisches Kino und Blödeln und findet, daß trotz solcher freudespendender Interessen ausgerechnet ich ihr in ihrem Leben noch fehle? Oder eine ganz andere, bei der mir egal ist, was sie macht und wie sie aussieht, weil ein geheimer Mechanismus sich in Gang setzt, eine Art emotionaler Schläfer in meinem Unterbewußtsein, für den man nur das Losungswort kennen muß?

Ist die "Recherche" eigentlich eine Erfolgsgeschichte? Oder wäre es eher ein Erfolg, ein stabiles, halbwegs ausgeglichenes Leben zu führen, in dem einen nichts dazu zwingt, 4000-Seiten-Bücher zu schreiben? Bis jetzt handelt das Buch eigentlich vom Scheitern, aber wie bei Lance Armstrongs "Tour der Leiden", weiß man ja schon, daß der Autor am Ende ganz oben stehen wird. Die Irrwege zu beschreiben, die gegangen werden mußten, bis der Autor zum Werk kam, gilt heute in der Literatur ja als Tabu, weil schon zu oft statt eines Buchs, die Schwierigkeiten, ein Buch zu schreiben, thematisiert worden sind. Mich interessiert das aber immer wieder, bei vielen Filmen ist ja auch das "Making of" das einzig interessante. Ich interessiere mich doch auch für das Ringen des Automechanikers um die Rettung des Getriebes, oder für den Kampf des Kochs um sein Soufflé, viel mehr als für ein Getriebe oder ein Soufflé.

Was hat das Happy end in unserer Kultur so diskreditiert? Wenn Dido, während sie noch am Strand steht und sich wegen Aeneas in die Klinge stürzen will, plötzlich von einem Fremden angesprochen würde, der ihr viel besser gefällt? Wenn Werther ein Erasmus-Jahr in Salamanca macht und sich dort in eine aufgeweckte Finnin verliebt und nicht mehr versteht, was er von Lotte wollte? Wenn Jesus gar nicht sterben wollte, sondern in Wirklichkeit einen Verrückten vorgeschickt hat, der gerne seine Stelle einnahm, während er sich mit einer Verehrerin aus dem Staub gemacht und zehn Kinder bekommen hat? Warum denken wir, daß darin eine Lüge liegt? Warum meinen wir immer, daß Leiden die tiefere Wahrheit enthält?

Seite 207-227 Viele Jahre hat Marcel im Sanatorium verbracht, nun kehrt er zurück nach Paris. Wieder einmal ereilt ihn "die Vorstellung meines Mangels an literarischer Begabung", weil er vom Zug aus so ganz genußlos eine schön im Licht liegende Baumreihe sieht, zu deren Beachtung er sich erst selbst anhalten muß. Früher hätte er das Bedürfnis verspürt, sie irgendwie lyrisch zu feiern, das hat er nicht mehr, weil es ihm ja auch nie gelungen ist. Und wenn man statt der Natur die Menschen beobachten würde? Dafür braucht man ja keine Inspiration, man kann einfach mitschreiben, was sie tun. Wozu hat er sich so lange von der Gesellschaft zurückgezogen, wenn es ihn nicht zum Künstler gemacht hat? Warum soll er nicht wieder auf Empfänge gehen, wenn er doch mit der Arbeit ohnehin nie beginnen wird? Die Einladungen treffen ja immer noch ein.

Unterwegs zu einer Soirée des Prinzen von Guermantes erreicht er im Wagen die Champs-Elysées. Dort ist er auf vertrautem Gelände und hat das Gefühl "eines Wegfalls von äußeren Hindernissen". Er bewegt sich direkt durch "eine gleitende, traurige, weiche Vergangenheit". Diese besteht "aus so vielen verschiedenen Vergangenheiten", daß er in sich nachforschen muß, welche dieser Erinnerungsschichten für seine momentane Schwermut verantwortlich ist. Die täglichen Gänge, um Gilberte zu begegnen? Die Nähe eines Hauses, in das Albertine sich mit Andrée begeben hatte? Die Straße, in der er immer die Plakate mit Stücken der Berma gesucht hat?

In einer Kutsche sitzt ein Mann mit weißem Haar und langem, weißem Bart, es ist Charlus, der einen Schlaganfall hinter sich hat und sich aufrecht zu halten bemüht, "wie ein Kind, das man zum Bravsein ermahnt hat." Sein ganzer Snobismus ist in der übertriebenen Anstrengung erhalten, die er sich auferlegt, um Madame de Saint-Euverte zu grüßen, die doch immer unter seinem Niveau war. Wie grausam, irgendwann von den jüngeren als solch ein überlebendes Phänomen beobachtet und beschrieben zu werden. Er redet sehr leise, hat aber seinen Geist noch beisammen und zählt genußvoll die Angehörigen seiner Familie und seiner Kreise auf, die er nun schon überlebt hat. Kaum läßt Jupien ihn einen Moment allein, ist er schon wieder im Gespräch mit einem Gärtnerburschen. Im übrigen hat er es, selbst als er zeitweise erblindet war, immer noch geschafft, auf irgendeine Art die attraktiven Hotelbediensteten herauszukennen.

Wie so oft in diesem Buch entwickeln sich die Dinge durch einen kleinen Unfall. Im Hof des Palais muß Marcel einem Wagen ausweichen und tritt dabei auf zwei unterschiedlich hohe Pflastersteine. Dort oben balancierend empfindet er die gleiche Beseligung, wie bei seinen anderen Madeleines. Die Empfindung scheint zu ihm zu sagen: "Hasche mich, wenn du die Kraft in dir hast, und versuche das Rätsel des Glücks, das ich dir aufgebe, zu lösen." In dem Fall gelingt es ihm, die Quelle ausfindig zu machen: es ist Venedig, wo er im Baptisterium von San Marco schon einmal auf zwei ungleichen Bodenplatten gestanden hat. Mit dieser Empfindung kommen auch alle "an jenem Tage mit dieser einen verknüpften Empfindungen" zurück. Die Bilder geben ihm eine Freude, die ihm selbst den Tod gleichgültig erscheinen läßt.

Kurz darauf überfluten ihn "Empfindungen von großer Wärme", als ein Diener mit einem Löffel gegen einen Teller schlägt. Das Geräusch erinnert ihn an den Hammer eines Bahnarbeiters auf der ersten Fahrt nach Balbec. Die Zeichen ziehen ihn aus seiner Mutlosigkeit und geben ihm den Glauben an die Literatur wieder. Auch als er sich den Mund mit der Serviette abwischt, denn sie hat "genau die Art von Steifheit und den Stärkegehalt des Handtuchs, mit dem ich mich am ersten Tage meiner Ankunft in Balbec mit solcher Mühe am Fenster abgetrocknet hatte". Er genießt den vergangenen Augenblick, den er damals nicht genießen konnte, weil ihn daran "irgendein Gefühl der Müdigkeit oder der Trauer in Balbec vielleicht gehindert hatte", der aber nunmehr "von allem befreit, was es an Unzulänglichem in der äußeren Wahrnehmung gibt, rein und vom Stoff entschlackt, mich mit Beschwingtheit erfüllte."

Die beängstigende Aussicht, nie etwas unmittelbares empfinden zu können, sondern dazu verurteilt zu sein, immer auf die beseligende Erinnerung warten zu müssen. Aber ist es nicht immer so gewesen? Das muß man wissen, damit man sich nicht ständig gegenseitig eine übertriebene Emphase abverlangt, wo die Empfindungen sich später, wenn die Erinnerung ihre Arbeit aufgenommen hat, umso intensiver einstellen werden.

Überraschend wiederauferstanden: - Die Berma.

Unklares Inventar: - Lakaien, von Potel&Chabot vermittelt.

  • Etwas bei Bernheim junior erstehen.

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