Schmidt liest Proust
Montag, 15. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 187-207

Anfang der 90er lieferten wir uns wie selbstverständlich den Filmen von Tarkowski aus, auch wenn viele dieser Kinoabende im Babylon Mitte etwas ansteckend apathisches hatten. Aber man war bereit für seine Erleuchtung zu leiden, leicht konsumierbare Kulturprodukte galten unter uns als unwesentlich. Man war altersmäßig noch gar nicht reif für diese Filme, aber umso begieriger war man, sie zu sehen, während mir heute, wo sie mir etwas sagen könnten, wohl die Geduld fehlen würde. Statt die Möglichkeiten der Wiedervereinigung zu nutzen und sein Glück zu machen, saß man in dunklen Sälen und sah immer wieder "Stalker", "Nostalgia" oder auch "Solaris". Während ich mich an den Schluß dieses Films nicht erinnere, sehe ich genau die Szene vor mir, in der die Frau mit bloßen Händen eine Stahltür zerfetzt, weil sie es nicht erträgt, auch nur einen Moment getrennt von ihrem Mann zu sein.

Seit über 20 Jahren steht Stanislaw Lems Buch, das dem Film als Vorlage gedient hat, bei mir im Schrank (vielleicht ein Konfirmationsgeschenk, weil jemand dachte, ich würde mich für Technik interessieren und nicht wußte, daß es in dem Buch eigentlich um Liebe geht.) In den letzten Tagen habe ich das Buch verschlungen, was immer ein schönes Gefühl ist, wenn man sich Bücher doch noch einverleibt, die man schon länger besitzt. Das bestärkt einen in der Vorstellung, im Ernstfall bereits jetzt die Pforten schließen und mit den angesammelten Schätzen bis zum Ende auskommen zu können. Der Zauber einer großen Bibliothek, in der unerkannt von uns, in Reichweite, unendliche Genüsse warten. Und was sind schon 20 Jahre im Leben eines Buchs?

"Solaris" ist bei Lem unter anderem eine Parabel über die Liebe, in eine philosophische Science-Fiction-Erzählung gekleidet (beeindruckend schon, wie verschwenderisch er beim Erfinden charakteristischer Beispiele vom Topos "Forschername" umgeht. Wenn ich keinen übersehen habe, sind es auf 240 Seiten: Gibarian, Snaut, Moddard, Sartorius, Gamow, Shapley, Hughes, Eugel, Ottenskjold, Shannahan, Berton, Le Chatelier, Civita-Vitta, Veubeke, du Haart, Thexall, Ravintzer, Carucci, Fechner, Archibald Messenger, Timolis, Trahier, Giese, Uyvens, Maartens, Ekkonai, Hamaleas, Fermont, Tsanken, Nilin, Cayatt, Awalow, Siona, Erg, Frazer, Cajolla, Gravinsky, Magenon, Panmaller, Strobla, Freyhouss, le Greuille, Ossipowitsch, Franck, Holden, Eonides, Stoliwa, Sevada, Proroch, Grattenstrom, Muntius, Cho-En-Min, Ngyalla, Kawakadze, Bergmann, Reynolds...) Obwohl alles in der fernen Zukunft spielt, könnte man das Buch schön mit Proust vergleichen (ein seltsamer Effekt, Bücher parallel zu lesen, man geht noch mit der Erwartung des einen in das andere Buch, wie wenn man eine Bank betritt und im Kopf auf eine Apotheke eingestellt war.) Ein Planet, der von einem gallertartigen Ozean bedeckt ist, den man als riesigen Organismus beschreiben könnte, der in der Lage ist, die Gehirne seiner Besucher zu analysieren und aus Neutrinostrukturen bestehende Gäste zu generieren, die ihren verdrängten Gedanken gleichen. So daß dem Helden eine Gefährtin zur Seite gestellt wird, die identisch mit der Frau ist, die sich vor Jahren seinetwegen umgebracht hat.

Er versucht zuerst, sie mit einer Rakete in den Orbit zu schicken, aber sobald er sie dort eingeschlossen hat, vibriert der große Apparat auf eine entsetzliche Weise, denn das Wesen in seinem Innern, das die Trennung nicht erträgt, hämmert mit unvorstellbarer Gewalt gegen die Wände. Natürlich entsteht das Wesen nach seiner Vernichtung wieder neu und erinnert sich an nichts. Es bemerkt aber, daß es von einem unbezwingbaren Verlangen gequält wird, bei ihm zu sein. Was für ein Bild für diesen Zustand, unter dem wir manchmal leiden, ohne ihn zu verstehen. Was erzeugt diese traurige, durch nichts zu beherrschende Macht in uns, die sich zuverlässig immer wieder das falsche Objekt sucht? Wegen der die mittelalterlichen Mystikerinnen halluziniert haben, Jesus' Herz zu essen oder von ihm schwanger zu sein? (Eine Freundin erzählte mir, man hätte sie zeitweise fast festbinden müssen, um sie daran zu hindern, zum Telefonhörer zu greifen und ihren sich ausschweigenden Partner anzurufen.) Und warum hat diese Macht so wenig Überzeugungskraft für andere und stößt sie im Gegenteil sogar ab?

Seite 187-207 Sind Männer, die sich aus Lustverlangen prügeln lassen, unzurechnungsfähig? Und diejenigen, die sie prügeln? Hat die "Krankheit von Monsieur de Charlus" ein neues Stadium erreicht? Dabei wisse "der Irre" doch, daß er Opfer eines Wahns sei, denn die Schläger sind ja nur bezahlt. Aber ist nicht schon jede individuelle Liebe zu einer Person eine "Abirrung"? Genaugenommen wäre jeder, der als einziger eine Frau liebt ein Irrer, insofern dieses Wort für jemanden steht, der anders als alle anderen ist. So wie unsere Organe ihre "Spezialneigungen" haben und man "bei bestimmten Wetterlagen ein Grauen" empfindet. So kann man auch eine Neigung "zu Frauen, die einen Kneifer tragen, oder zu Kunstreiterinnen" empfinden (wie schwer wäre es allerdings, diese heute zu befriedigen...)

Schaut man sich in der Welt der Pornographie um, fällt die scheinbar unbegrenzte Ausdifferenzierung der Angebote auf. Eine fast schon wissenschaftliche Kategorisierung der Lust, die etwas kapitalistisches hat, wie ein großes Kaufhaus, in dem für jedes Bedürfnis ein Produkt angeboten wird. Wobei mir diese Kombination von Reizen immer zweifelhaft vorkam, wie es doch auch verlogen scheint, Pizzen Namen zu geben, wenn sie sich nur in der Kombinatorik ihrer Zutaten unterscheiden, weil eine Pizza in meinen Augen noch keine zu einem Namen berechtigte Individualität besitzt, wenn sie statt mit Pilzen, Oliven und Schinken mit Pilzen, Oliven und ohne Schinken serviert wird.

Hinter dem Verlangen von Charlus, der sich schwer aufzutreibende Folterinstrumente wünscht, wie sie selbst an Bord von Schiffen, wo die härteste Disziplin herrscht, außer Gebrauch gekommen sind, verberge sich vielleicht nur der "Traum von Männlichkeit". So enthalte jede Sehnsucht eine Wahrheit über uns.

Das Totenlied auf den, beim Versuch, den Rückzug seiner Leute zu decken, gefallenen Saint-Loup, wird konterkariert von der kleinen Vorinformation, daß er sein Kriegskreuz verloren hat, das ja ein paar Seiten vorher in Jupiens Lupanar aufgetaucht war. Der siegfriedhafte Saint-Loup hatte also auch zu den Besuchern dieser Züchtigungsanstalt gehört. Abgründe, in die man schauen muß, will man den Menschen verstehen. Oder kann man sie ebenso aussparen, wie man nicht unbedingt wissen muß, wie es aussieht, wenn die Freundin sich die Zähne mit Zahnseide reinigt? Im Sinne von Heiner Müller: "Kein Auge soll alles sehen"?

Wieder, wie in der Todesszene aus Winnetou III, laufen vor Marcels Auge, der sich vor Kummer mehrere Tage in seinem Zimmer einschließt, die Bilder von Saint-Loup ab, seines edlen Freunds. Und er fragt sich, ob er sie nicht sogar intensiver empfindet als bei Personen "die man mehr geliebt, aber auch in so unaufhörlicher Folge vor sich gesehen hat, daß das Bild, welches man von ihnen behält, nur noch eine unbestimmte Mitte zwischen einer Unzahl von unmerklichen verschiedenen Bildern bezeichnet..." Denn bei diesen ist "unsere Zuneigung [..] ganz auf ihre Kosten gekommen", und man denkt nicht, daß man allein durch die Umstände um mehr betrogen wurde.

Wie das Leben so spielt, kurz vor seinem Tod hatte Saint-Loup aus Sehnsucht beim Militär nach Morels Aufenthalt geforscht. Zu spät für Saint-Loup ist er wiederaufgefunden, aber bei der Gelegenheit gleich als Deserteur enttarnt worden. Um seine Haut zu retten, denunziert Morel Charlus und Monsieur d'Argencourt, die daraufhin eingesperrt werden.

Verstorben: - Robert de Saint-Loup.

Unverfrorene Behauptung: - "In dem Buche, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist..."

Verlorene Praxis: - Sich aus ohne Anleitung gepflegter Zufallslektüre eine so treffende Redeweise schaffen, daß in ihr ein vollendetes Gleichgewicht der Sprache sichtbar wird.

  • Eine Person, die man liebt mit Vergnügen alle Tage zur Weißglut bringen, indem man sie beim Domino schlägt.
  • Selbst wenn man einen Salon durchschreitet immer den Schwung des Angriffs in sich tragen.

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