Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 11. Januar 2007
Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 126-146 jochenheißtschonwer, 11.01.07, 18:31
Nachtfahrt im Auto vom Ort unserer Lesung nach Berlin, wir überfahren einen Fuchs, vom ungewöhnlichen Geräusch des Aufpralls wache ich auf. Beim Halt kurz draußen gewesen, wo es windig ist und man sich vorstellen kann, wie anders alles wäre, wenn man nicht gleich wieder ins warme Auto steigen könnte. Mit dem Kopf gegen eine kalte Scheibe lehnen, ins Dunkel sehen und auf das Brummen des Motors hören, was mich an die langen Busfahrten in Bosnien erinnert, nur daß der Fahrer keinen Turbo-Folk hört und mein Sitznachbar nicht raucht. Ich bin ziemlich deprimiert, weil ich bei der Lesung im Vergleich zu den anderen nicht angekommen bin und darin wie immer ein grundsätzliches Problem sehe. Wenn ich solo gekommen wäre, hätte ich natürlich gar kein Publikum gehabt, das muß man bedenken. Aber soll man sich freuen, vor Leuten zu lesen, die einen schlucken wie eine bittere Pille? Andererseits, Erfolg ist immer ein Mißverständnis. Es wäre aber zu einfach, sich damit zu trösten, daß man eben nur einer Elite gefällt, denn damit reden sich alle raus, die keinen Erfolg haben. Trotzdem, obwohl mir meine Texte gefallen, wird es immer schwerer, sich damit vor Menschen aufzubauen, die eigentlich nicht lesen. Aus Angst vor Zurückweisung sucht man dann seine zynischsten Texte raus, weil man weiß, daß man mit echten Gefühlen langweilen würde. Den Fehler macht man ja auch bei Frauen, die meist nicht durchschauen, warum man so abweisend ist. Man kann dann sagen: wer das nicht versteht, ist es eben nicht wert, aber dann steht man irgendwann allein da, als Autor und als Mann. Allerdings heißt es von Larry David, er habe bei manchen seiner frühen Stand-up-Auftritten ins Publikum geguckt, "Nah... I don't think so" gesagt und sei ohne ein Wort wieder von der Bühne verschwunden. Dafür ist er heute legendär. Aber er hat es auch geschafft, eine ganz von seinem Geist geprägte Sitcom zu kreieren, deren letzte Folge fast die Hälfte aller Amerikaner geguckt hat. So setzt man sich ständig mit dem Dilemma auseinander, die eigenen Vorhaben irgendwie mit der Masse versöhnen zu wollen, sonst könnte man ja auch hermetische Lyrik schreiben und es sich in seiner Künstlerpose gemütlich machen. Man kämpft im Unterhaltungsbereich nicht weniger um Integrität, als wenn man expressionistische Inzestdramen für die deutschen Stadttheater schreibt, vielleicht ja sogar mehr, weil man wirtschaftlich denken muß. Gestern sagte ein Zuschauer nach der Lesung zu mir: "Der eine von euch ist doch viel besser angekommen als die anderen, da solltet ihr vielleicht nicht zusammen lesen." "Ich will aber gar nicht ankommen." "Und noch einen Tip: Axel Hacke." "Was ist mit dem?" "Der macht das gut." "Ich will es aber schlecht machen." Er meinte wohl, ich sollte mal bei Axel Hacke nachlesen, wie man so schreibt, daß es ihm gefällt. Man bekommt dann einen Schreck, wie tief man schon gesunken ist, daß man überhaupt so eingeordnet wird. Ich nehme mir dann immer vor, nur noch Texte zu schreiben, die niemand gut findet. Andererseits muß man doch jeden irgendwie erreichen können, wie Arznei oder Alkohol ja auch in die Blutbahn gelangen, unabhängig von der Bildung oder der Persönlichkeit des Organismus. "Multi te laudant, ecquid habes cur placeas tibi, si is es quem intellegant multi? introrsus bona tua spectent." Man bleibt dann niedergeschlagen, bis ein Ruck durch einen geht, wie bei einem Fußgänger, der plötzlich losrennt, weil er seine Bahn kommen sieht und sich freut, wenn er sie noch schafft, denn er hat etwas erreicht im Leben, wenn auch nur eine Bahn. Dann schreibt man wieder einen neuen Text, der einen für eine Weile von allem ablenkt. Aber vorerst muß ich noch an den Fuchs denken, den ich einen Moment lang beneidet hatte, weil es für ihn vorbei war. Seite 126-146 Marcel geht mit Charlus über die Boulevards und Charlus bedauert den Verlust an lebendiger Schönheit durch die vielen Opfer, die der Krieg unter den jungen Männern fordert. Man werde beim Nachtmahlen im Restaurant nur noch "von rachitischen, kneiferbewehrten Gestalten", bedient, die aus offensichtlichen Gründen zurückgestellt worden seien, oder gar von Frauen. Nichts Erfreuliches mehr, worauf man sein Auge ruhen lassen könne. Schuld ist "...das Abströmen aller Männer an die Front, durch das infolge einer Saugwirkung während der ersten Mobilmachungszeit in Paris eine Art von Leere entstanden war..." Auch unbelebte Schönheit hat zu leiden, die Kirche von Combray ist von Franzosen gesprengt worden, weil sie den Deutschen als Beobachtungsposten diente. Unerträglich sei, daß jedes Land dasselbe sage. Ständig wird mit denselben Argumenten, die man dem Gegner vorwirft, eigenes Handeln gerechtfertigt. Außerdem herrscht eine Stimmung, in der es schon vaterlandsfeindlich ist, sich immer noch mit nicht kriegerischer Kultur zu befassen. Aus seiner üblichen Verachtung für die Passanten heraus schreit Charlus beim Sprechen, so wie er auch niemandem ausweichen würde. Er hat ja nie eine Kunst betrieben und muß seine Eindrücke "wie ein Flieger seine Bomben, und wäre es auf freiem Feld, sogar da loswerden [..] wo seine Worte niemanden erreichten, erst recht aber, wenn er sich in Gesellschaft befand, wo dann alles, was er sagte, zufällig irgendwo einschlug..." Währenddessen drücken sich in ihrer Nähe zwielichtige Gestalten herum, die sich Charlus anbieten würden, wenn er allein wäre. Marcel fragt sich, ob er bei ihm bleiben soll, um ihn vor diesen zu bewahren, oder ob es Charlus nicht weniger peinlich wäre, wenn Marcel nicht hier wäre. Genau wie bei einem Epileptiker, dessen Anfall sich andeute, wisse man nicht, ob die Anwesenheit eines Helfers erwünscht sei, oder ob dessen Abwesenheit den Betroffenen nicht vielleicht sogar soweit beruhigen würde, daß der Anfall ausbliebe. Immer noch sind ständig Flieger am Himmel, eine der Neuerungen für das Auge, die dem Krieg zu verdanken sind: "Der große Eindruck von Schönheit, den diese menschlichen Sternschnuppen uns boten, lag vielleicht darin, daß sie uns veranlaßten, zum Himmel aufzuschauen, zu dem man sonst nur selten die Augen erhebt." Für sich selbst sieht Marcel keine Gefahr durch die Bomben: "Da meine Trägheit mir die Gewohnheit mitgeteilt hatte, meine Arbeit immer von einem Tag auf den folgenden zu verschieben, stellte ich mir zweifellos vor, es könne mit dem Tode ebenso sein." Ob man das kann, aus Faulheit nicht sterben? Nur einmal scheint sich wirklich ein Bomber auf ihn zu zubewegen, und er erlebt einen Moment der Angst: "Die originale Wirklichkeit einer Gefahr wird ja erkennbar nur in jenem ganz neuen Faktor, den man nicht auf irgend etwas bereits Bekanntes zurückführen kann und den man als persönliches Erlebnis bezeichnet." Nur der Schrecken steht für eine neue Erfahrung, alles andere lehrt uns nichts. Unklares Inventar: - Cuvier, Combes, Jomini, Apollonius von Tyana, Père Didon, Morand, Syveton, Becque, Saint-Vallier, Saint-Mégrin. Verlorene Praxis: - Die Aufmerksamkeit durch die Fruchtbarkeit seiner Intelligenz und die Hilfsquellen seines Gedächtnisses dauernd zu fesseln vermögen.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Jemandem durch ziemlich lautes Sprechen zu verstehen geben, daß von ihm die Rede ist, während man sich gleichzeitig bemüht, durch eine gewisse Dämpfung der Stimme anzudeuten, daß man von ihm nicht gehört werden wolle. Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Lenin spricht, doch der Wind der Steppe trägt seine Rede davon." (Brichot)
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