Schmidt liest Proust
Mittwoch, 10. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 105-126

Falko Hennig war einer der ersten Autoren, die mir, als ich selbst noch ausschließlich Zuschauer war, auf den Berliner Lesebühnen aufgefallen sind. Er las seine Texte meist im Stehen vom Laptop ab und trug dabei fast das ganze Jahr über kurze Hosen und Sandalen, weil er wieder gerade aus China wiederkam. Manchmal verschenkte er an Interessierte aus dem Publikum Müll aus seiner Wohnung, der ihm zu schade zum Wegwerfen war. Sein erstes Buch "Alles nur geklaut" enthielt so viele faszinierende Szenen, daß es gar nicht störte, daß der Lektor offenbar betrunken gewesen war, als er die Wortwiederholungen kontrollieren sollte. Aber wie bei guter Musik machte es gar nichts, daß die Platte kratzte, das Buch ist für mich der einzige legitime Wenderoman, weil die DDR anhand einer Kleinkriminellenkarriere beschrieben wird, wie wir sie damals zwangsläufig alle geführt haben. Der erste Satz lautet: "Bei mir hat es im Kindergarten angefangen." Bei mir auch! Einmal berichtet der Held, wie er beim Altstoffhändler eingebrochen ist und sich im Altpapierberg eine Höhle eingerichtet hat, wo er ganze Tage umgeben von alten Zeitungen verbrachte, viele aus dem Westen. Oder er landet beim Versuch, im Palast der Republik einzubrechen, um in die ausverkaufte Loriot-Vorstellung zu kommen, in der Volkskammer. Bei den meisten Episoden stand ich sozusagen direkt daneben, Loriot habe ich z.B. damals durch Zufall vom Palasthotel (inzwischen abgerissen) zum Palast (bald abgerissen) gehen sehen, die Kartensucher standen bis zur Spandauer Straße, einer fragte sogar Loriot selbst, ob er eine Karte habe.

Was mir Falko Hennig so sympathisch macht, ist seine fast makellose Erfolglosigkeit, wenn man einmal davon absieht, daß er einzigartige Texte schreibt, aber wenn man damit kein Geld verdient, kann man irgendwann auch nicht mehr weitermachen. Er hat ein paar bemerkenswerte Gedichte geschrieben, das macht er nicht mehr, weil er diese Form inzwischen für ökonomisch unsinnig hält. Ich glaube, er gehört zu den wenigen Autoren, denen viel Geld nichts anhaben könnte, er würde im Gegenteil viel besser funktionieren.

Aber alle Strategien, den Erfolg herbeizuzwingen, gehen bei ihm daneben: wenn er 1000 Werbekarten verschickt, kommen 999 zurück, weil die Straßen umbenannt worden sind, wenn er für Pressekonferenzen Buffets organisiert, ist gerade Champions-League-Finale, seine Filmkamera und die Fototasche, die er immer mit sich führt (da er immer dann Motive entdeckt, wenn er sie nicht dabeihat), läßt er alle paar Tage irgendwo liegen. Wenn er sich in einem Café hinsetzt, gehen die Gläser an den Nachbartischen zu Bruch. Er nutzt die Gelegenheit, um die Geschädigten mit Flyern seiner nächsten Veranstaltungen zu trösten, was meistens nicht so gut ankommt.

Falko Hennig steht in der Tradition der großen Tagebuchschreiber, der Brüder Goncourt (von deren Buch ich ihm eine Auswahl geschenkt habe, ich glaube, er hat nie reingesehen), von Thomas Mann und vor allem Walter Kempowski. Seine Chronik ist ein Lebensroman von Katastrophen, Zumutungen und Selbstbeschwörungen zur Arbeit, sie enthält aber auch herrliche Beschimpfungen, Drohbriefe und Krankheitsbeschreibungen. Die tröstliche Komik des Lamentos ist hier zu bewundern. Daß ich vor 5 Jahren selbst angefangen habe, nach einer längeren Pause wieder Chronik zu schreiben, lag sicher hauptsächlich an ihm. Mein Traum war es immer, beide Versionen der Wirklichkeit in einer Lesung gemeinsam zu präsentieren, daraus entstand die Idee der WELTCHRONIK.

Seit einem Jahr arbeiten wir nun an dieser Veranstaltung. Zunächst gab es keinen Raum, weil die in Frage kommenden Orte abenteuerliche Konditionen verlangten. Dann hatten wir endlich die Zusage vom Tränenpalast, aber eine Woche später erfuhr ich aus der Zeitung, daß der Tränenpalast dicht machte. Ich hätte es wissen müssen, ich arbeitete schließlich mit Falko Hennig zusammen! Dann kamen die Absagen von Gästen, denn der Clou sollte ein Stargast sein, der für uns einen Monat lang Tagebuch führte. Karl Dall führte fadenscheinige Gründe an, Sven Regner behauptete, die Sache sei ihm zu exhibitionistisch, Judith Holofernes wurde von ihrem Management abgeschirmt, Charlotte Roche und Sarah Kuttner reagierten nicht, Wladimir Kaminer wollte wegkommen vom Vorlesen. Rühmliche Ausnahme war Judith Hermann, die sofort zusagte, aber als ich ihr irgendwann erklärte, daß wir nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit lesen würden, sondern vor möglichst viel Publikum, bekam sie Angst, was ja eigentlich sehr sympathisch ist, aber schlecht für uns, denn sie warf eine Münze und wir hatten Pech (das heißt, wahrscheinlich hatte Falko Pech, bei wäre die Münze sicher richtig gefallen). Am liebsten hätte ich ja die Oma aus meinem Haus gefragt, deren Tagebuch mich tatsächlich interessieren würde, aber würden wir dann den Saal vollkriegen? Und war es überhaupt möglich, mit Falko Hennig eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu realisieren?

Am 31.1. soll es endlich so weit sein, wenn Falko sich nicht vorher wieder beim Kauf einer Bockwurst das Genick bricht, wie vor 2 Jahren. Am Ende sitze ich allein im Babylon, und sie halten mich für ihn und bewerfen mich mit Tomaten! Warum machen wir das überhaupt? Erniedrigende Anrufe und demütigende Treffen mit Sponsoren, die nie von uns gehört haben und auf Anfragen zehnmal nicht reagieren, um beim elften mal abzusagen? Tausend Entscheidungen über Flyergestaltung, Pressetexte, Fotoauswahl. Endloser Mailverkehr mit vergeßlichen Gästen, beängstigende Auslagen für Licht, Ton, Technik, Werbematerial, Grafiker, Gasthonorar? Ich wollte doch eigentlich nur meine Chronik vorlesen und Falko bei seiner zuhören! Und jetzt planen wir eine Multimediashow, wobei wir noch nicht wissen, ob unsere Computer S-Video oder VGA haben, was wohl wichtig sein soll für eine Multimedia-Show. Warum macht man das? Weil es schade wäre, es nie versucht zu haben?

Seite 105-126 Eine so früh im Jahrhundert schon beschriebene Erfahrung: "...daß der Tod von Millionen Unbekannten kaum und beinahe weniger unangenehm als ein Luftzug unsere seelische Epidermis berührt." Madame Verdurin leidet z.B. weit mehr unter ihrer Migräne, die sie bekommt, "weil sie morgens keine Hörnchen mehr in ihren Milchkaffee tauchen konnte." Erst als ihr Cottard, der mal wieder wiederauferstanden ist, ein Attest schreibt, und sie sich die rationierten Croissants aus einem Restaurant kommen lassen darf, geht es ihr besser.

Aus reinem Mißfallen über das floskelhafte patriotische Gerede der Franzosen und ihrer Zeitungen hält Charlus, der notorisch unpatriotisch ist, fast schon wieder eher zu den Deutschen. Die Fehler der eigenen Leute fallen einem eben stärker auf, und schon deshalb hält man manchmal zu den Gegnern. In den Zeitungen literarisieren Autoren das Zeitgeschehen, die die Länder und Herrscher, von denen sie schreiben, nie gesehen haben. Ausdrücke fallen, wie der von der Notwendigkeit einer "wissenschaftlichen Barbarei, wenn wir den Krieg gewinnen wollen." Monsieur Norpois fordert in seinen Artikeln das Eintreten Rumäniens oder Bulgariens in den Krieg: "Es ist augenscheinlich, daß die Völker, die erst dem Siege zu Hilfe eilen, dessen strahlendes Morgenrot sich bereits am Horizont abzuzeichnen beginnt, nicht auf die Belohnung rechnen können" Natürlich sehen die Leute alles durch die Brille ihrer Zeitungen, je nachdem, welche sie lesen. Charlus kennt dagegen alle beteiligten Herrscher persönlich, bzw. ist mit ihnen verwandt. Und Kaiser Franz-Joseph, der ihn als Vetter behandelt, hat er seit Kriegsbeginn nicht mehr geschrieben, "fuhr er fort wie jemand, der kühn einen Fehler eingesteht, von dem er weiß, daß man ihn nicht wohl deswegen tadeln kann."

Hinzu kommt, daß er auch über ihre sexuellen Absonderlichkeiten auf dem Laufenden zu sein behauptet. Mit Konstantin von Griechenland ist er vor seiner Hochzeit "recht gut bekannt gewesen". Kaiser Nikolaus soll "eine große Schwäche für ihn" hegen. Der Zar von Bulgarien "ist mir sehr zugetan." Sie sind also alle "so". Und so erklärt es sich auch, daß Ferdinand von Coburg, der Zar von Bulgarien, der "mutmaßlich ähnliche Beziehungen" zu Kaiser Wilhelm unterhält, sich mit seinem Land auf die Seite Deutschlands und der "Raubstaaten" geschlagen hat. Eine unorthodoxe Erklärung für das Zustandekommen internationaler Allianzen.

Unklares Inventar: - Einfliegende "Gothas".

  • Berloque (Militärsignal).
  • Vauquois (Schlacht).
  • Germano-Turanier (Schimpfwort).
  • Caillaux, mutmaßlicher Verräter und ein "Giolitti Frankreichs".
  • Giolitti.
  • Venizelo.

Verlorene Praxis: - Jeden Abend nicht nur die Situation der Armeen, sondern auch der Flotten durchsprechen.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "...und er setzte die bescheidene Miene eines Mannes auf, der kein Honorar verlangt."

Zeitgenössische Gesten: - Der Zeitung kleine Stupse geben, damit man sie aufgeschlagen halten kann, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen des Hörnchens beschäftigte Hand zu benutzen.

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