Schmidt liest Proust
Montag, 8. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 65-85

Diese Geschichten aus den Lateinlektionen gehen mir im Moment nahe. Den Römern fehlt es an Frauen, deshalb laden sie die Sabiner zu Spielen nach Rom ein. Während die Sabiner sich über die Spiele freuen, betrachten die Römer schon die mitgebrachten Frauen, die sie schließlich in ihre Häuser entführen. Die Sabiner drohen Rom mit Krieg, aber die Sabinerinnen stellen sich zwischen ihre Familien und ihre neuen Ehemänner, sie schaffen es, die beiden Völker zu versöhnen. Ich denke natürlich sofort, was für korrumpierbares Pack, natürlich hatten die Römer den größeren Komfort zu bieten, die Stadt war schließlich das Zentrum der Welt, das war ja nichts anderes als heute einen reichen Mann zu heiraten. Wie demütigend, seine Frauen so an die Herrscher der Welt zu verlieren. Oder Dido, die den vor Karthago gestrandeten Aeneas mit seinen Leuten aufnimmt, sich in ihn verliebt, bis Jupiter ihm befiehlt, mit seinen Troianern weiter nach Italien zu segeln, weil das "ihr Fatum" sei. Die arme Verlassene begeht Selbstmord, während Aeneas die salzige Meeresluft genießt und sich schon auf neue Ziele freut. Oder Lucretia, die während ihr Mann Kriegsdienst leistet, vom Sohn des Königs bedrängt wird, der ihr droht, ihren Leichnam neben den eines toten Sklaven zu legen, und sie der Unzucht zu beschuldigen, woraufhin sie ihn gewähren läßt und er sie vergewaltigt. Sie schickt nach ihrem Mann, der nach Hause eilt und zusehen muß, wie sie sich vor seinen Augen umbringt. Die Untat führt zur Beendigung der Monarchie. Oder die beiden Legionäre, die sich darum streiten, wen seine Soldaten mehr lieben, und die sich deshalb in die Schlacht stürzen und schließlich gegenseitig retten. Oder Coriolan, der sich vom Ehrgeiz mitgerissen mit den Plebejern anlegt, verbannt wird, mit den Volskern, den schlimmsten Feinden Roms, gegen die Stadt zieht. Und dann kommt ihm seine Mutter entgegen und hält ihm eine Standpauke, woraufhin er abzieht, aber von den Volskern wegen Verrats zum Tode verurteilt wird! Oder Romulus und Remus. Da zieht man eine heilige Furche und markiert die Grenzen der neuen Stadt, die man gründen will, und der Bruder verspottet einen, indem er immer über den Graben springt. Vor Wut tötet Romulus Remus, sonst würde die Stadt ja auch Rem heißen und nicht Rom. "So möge es jedem ergehen, der über meine Mauern springt!“ sagt Romulus. Solche Wut kann man nur gegen den Bruder empfinden! Oder Vergil, der in seinem Garten eine Fliege bestattet, damit das Gelände offiziell als Friedhof gilt und er keine Steuern zahlen muß. Irgendwie fand ich auch, daß das Foto der schwangeren Franziska van Almsick hierher paßte, neben ihrem neuen Mann, einem Unternehmer aus Hockenheim. Ich weiß nicht, warum mich der Anblick der beiden traurig stimmt. Dieses scheue Mädchen, das immer von falschen Beratern umgeben gewesen war und in der Liebe kein Glück hatte. Erst ein proletenhafter Handballer, der sie sicher ständig mit Handballerinnen betrogen hat, und jetzt zieht sie zu einem Unternehmer nach Heidelberg, der den Hockenheimring mit Geldspenden unterstützt. Das ist doch ein Irrweg, der Mann sucht doch nur eine Trophäe aus dem Osten. Warum wirft sie sich so weg? Warum habe ich keine Chance bekommen? Nur weil ich nicht kraulen kann?

Seite 65-85 Saint-Loup dient inzwischen an der Front, würde es aber, als echter Guermantes, selbst unter der Folter nicht schaffen, Kaiser Wilhelm einfach nur "Wilhelm" zu nennen: "Würden zwei Männer der Gesellschaft als einzige Überlebende auf einer öden Insel übrigbleiben, auf der sie niemandem gegenüber durch gute Manieren sich auszuweisen hätten, würden sie einander doch an solchen Spuren guter Erziehung erkennen, ebenso wie zwei Latinisten am korrekten Zitieren Virgils." Das ist für Marcel aber keineswegs nur positiv zu sehen, sondern, obwohl "etwas ganz Wundervolles", doch auch "ein Zeichen großer Behinderung für den Geist."

Offenbar fühlt Saint-Loup sich im Kreis seiner Kameraden an der Front gut aufgehoben, und Marcel sieht diese Begeisterung am Ideal männlichen Zusammenlebens als Folge der Homosexualität. Denn Saint-Loup empfinde ja wie Charlus Grauen vor jeglicher Verweichlichung und deshalb einen wahren Rausch "beim Kontakt mit der Männlichkeit." Eine "zerebrale Wollust" beim Zusammenleben unter freiem Himmel mit anderen Soldaten (z.B. den berühmten Senegalesen), die mit einem Kokainrausch vergleichbar sei. Diese Haltung zeige sich auch beim Menschentyp "rauh, aber mit goldenem Herzen", der beim Abschied zwar "eine Neigung zu Tränen verspürt", von der niemand etwas ahnt, sein goldenes Herz aber "unter wachsendem Zorn verbirgt" und schließlich poltert: "Los jetzt, zum Donnerwetter, du blöder Hund. Umarme mich und nimm diese Börse hier, die mich in meiner Tasche stört, verdammter Dummkopf du." Wie oft hat man diese Szene seitdem in Filmen gesehen?

Marcel nennt diese Form sorgsam unterdrückter Neigung zur Männlichkeit "hassenswert". Rührung werde erzeugt, indem man sie verbirgt, das sei "widerwärtig und häßlich, weil nur solche Leute in dieser Art trauern, die der Meinung sind, daß Kummer nicht zählt, daß das Leben ernster als Trennung und alles übrige ist." Das Ideal der Männlichkeit bei Homosexuellen wie Saint-Loup sei "verlogen, weil sie sich selbst nicht eingestehen wollen, daß physisches Verlangen auf dem Grunde der Gefühle ruht, die sie aus anderen Quellen herleiten." (Vielleicht spricht hier aber auch ein bißchen der geprellte Nicht-Soldat, denn der Krieg mache "die Hauptstädte, in denen es nur noch Frauen gibt, zu einem verzweiflungweckenden Aufenthalt für Homosexuelle...") Obwohl Marcel Saint-Loups Haltung unendlich mehr als die von Charlus bewundert, ist doch des einen Verlangen "an den gefährlichsten Punkt gestellt zu werden" im Grunde nichts anderes, als die Bestrebtheit des anderen, helle Krawatten zu vermeiden. Ein interessanter Gesichtspunkt, den man Ernst Jünger ins Grab nachrufen möchte.

Gilberte reist auf ihr Gut in Tansonville bei Combray und wird dort von den Deutschen überrascht. Sie läßt sich in einem Brief an Marcel (der die meiste Zeit des Kriegs im Sanatorium verbringt) über die vollendete Erziehung der deutschen Stabsoffiziere aus und lobt die deutschen Soldaten "die nur um die Erlaubnis nachgesucht hatten, sich eines der Vergißmeinnicht abzupflücken, die am Teiche wuchsen." Um die Wege und Hügel, die Marcel in Combray geliebt hat, wird jetzt erbittert gekämpft. Méséglise wird berühmt für eine achtmonatige Schlacht, bei der die Deutschen sechshunderttausend Mann verlieren. Der Weißdornweg, wo Marcel sich in Gilberte verliebt hat, führt zur "berühmten Höhe 307", die immer wieder in den Tagesbefehlen auftaucht. Man möchte gar nicht daran denken, was für melodramatische Bilder die Filmindustrie aus solch einer Entwicklung gewinnen würde, den Himmel verdunkelnde, heranheulende Jagdflieger, Kindheitsorte, von Bomben verwüstet, ein Schaukelpferd, das eine Treppe herabrollt, hinein in die Feuersbrunst, das halb zerrissene Kleid der Gespielin unter den Stiefeln der Soldateska.

So bekommen die persönlichen Erinnerungsorte durch den Krieg im Nachhinein eine historische Bedeutung, wie es bei mir oft genau andersrum geschieht, wenn man um den Schloßteich in Kaliningrad joggt und später nachliest, daß hier die Patienten aus dem benachbarten Krankenhaus, als die Front kam, ins Freie gelagert wurden, wo die meisten starben, oder sich vorzustellen versucht, wie das Kriegsgeschehen in der dörflichen Gegend ausgesehen hat, die man als Kind besucht hat.

Unklares Inventar: - Rumplertauben.

Verlorene Praxis: - Aus einer Art von seelischem Zartgefühl, das dem Ausdruck allzu tiefer Empfindungen, die man noch dazu ganz natürlich findet, aus dem Wege geht, gewisse Erklärungen nicht abgeben können.

  • Das eigene Leben leichthin jenem wirklichen inneren Anliegen, unserem wahren Lebenskern opfern, den unsere individuelle Existenz nur wie eine schützende Epidermis umgibt.
  • Sterben und seinen Leuten im Tode noch fanatische Liebe einflößen.
  • Auf ihren Lippen das reinste Französisch erblühen sehen.
  • Durch den Kugelregen laufen, um einen verwundeten Vorgesetzten wegzutragen, dann aber, selbst getroffen, noch im Sterben lächeln, wenn der Stabsarzt einem sagt, der Graben sei den Deutschen schon wieder entrissen worden.
  • Sich daran gewöhnen, daß der Kopf eines Kameraden, der gerade zu einem spricht, plötzlich von einer Granate getroffen oder ihm sonstwie von der Schulter gerissen wird.

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