Schmidt liest Proust
Sonntag, 7. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 45-65

Ich bin der, neben den sich die Frauen nachts auf dem leeren Bahnsteig setzen, weil sie von ihm nichts befürchten. Ich bin der, der die Vokabeln gelernt hat, auch die nicht zum Lehrstoff gehörenden mit dem Sternchen. Ich bin der, dem alle Reißverschlüsse kaputtgehen. Ich bin der, der dem Paketboten auf der Treppe entgegenkommt. Ich bin der, der sagt "stimmt so". Ich bin der, der auch noch auf dem Foto ist, und von dem dir der Name nicht mehr einfällt. Ich bin der, der deinen Blick bemerkt hat, als der große, stattliche Mann hereinkam und sich den Schnee seiner letzten Reise von den breiten Schultern klopfte. Ich bin der, dem du die Sicht verdeckst, wenn du im Kino deinen Freund küßt. Ich bin der, der seinen Müll in der Hand behält, bis er einen Papierkorb findet. Ich bin der, bei dem du dich nach 20 Jahren fragst, warum er dir nie aufgefallen ist. Ich bin der, der bei "Cinema paradiso" weinen muß. Ich bin der, der sich beim Kondomaufziehen immer so unter Druck fühlt, wie ein unter Beschuß stehender Aufständischer, dem nur Sekunden bleiben, um schneller als sein Gegner das Magazin seiner Maschinenpistole zu wechseln. Ich bin der, bei dem man denkt, es geht ihm gut. Ich bin die Nummer 3 im deutschen Tor. Ich bin der, der an Aussichtspunkten immer pinkeln muß. Ich bin der, den man fragt, ob er mal rückt. Ich bin der, der jedesmal nachdenkt, ob er in dem Fall "tod" oder "tot" schreiben muß. Ich bin der, der sich fragt, ob man im Café ein zweites Mal "Tschüß" zur Kellnerin sagen soll, wenn man nach dem Bezahlen noch einmal aufs Klo gegangen ist. Ich bin der, der gerne Sprayer wäre, sich aber für kein Pseudonym entscheiden könnte. Ich bin der, der gerne einmal nicht der erste Mohikaner wäre. Ich bin der, der sich fragt, warum nicht alle sind wie er. Ich bin der, der nie einen Drachen hatte, der geflogen ist. Ich bin der, der das Radio leiser drehen würde, wenn er beim Radio anrufen würde. Ich bin der, der die Stelle kennt, wo in der Samariterstraße früher eine grüne Wasserpumpe gestanden hat. Ich bin der, der sich, wenn er dich kennenlernen und mit zu sich nehmen würde, nicht die Mühe machen würde, sein Auto einzuparken, sondern es, ohne sich noch einmal danach umzudrehen, in den Abgrund rollen ließe um mit dir fortzugehen. Ich bin der, dem es die Lust am Leben nimmt, wenn er sein T-Shirt am Morgen falschrum angezogen hat. Ich bin der, der bei Prüfungen so aufgeregt ist, daß er nicht mal seinen Vaterschaftstest bestehen würde. Ich bin der, der daran, daß sein Duschkopf nicht am Halter hängt, merkt, daß eine Frau in der Wohnung war. Ich bin der, der Melonen erfinden möchte, die man erst zuhause mit Wasser füllt. Ich bin der, der sogar seine Obstfliegen vermißt, wenn sie nicht mehr da sind. Ich bin der, der sich fragt, ob Kinder so klein sind, damit die Sachen nicht kaputt gehen, die sie immer fallenlassen. Ich bin der, dessen Freundinnen immer eine verstopfte Nase haben. Ich bin der, der im Vorbeigehen an einem Blatt zupft, und dann fällt der Baum um. Ich bin der, dem es völlig gereicht hätte, wenn die Kamera in dem Film stattdessen einfach nur zwei Stunden Penélope Cruz gezeigt hätte. Ich bin der, der Behälter mag, die die Form von dem haben, was sie enthalten. Ich bin der, der es genauso seltsam findet, vor dem Sex das Handy auszuschalten, wie es nicht zu tun. Ich bin der, der sich fragt, ob er auf den einen Cent Rückgeld warten soll, wenn das Brot 2,99 gekostet hat, oder ob es arrogant wirken würde, darauf zu verzichten. Ich bin der, dessen Kuß auf ihren Lippen landete, wie die Rettungskapsel eines Raumschiffs in Kasachstan. Ich bin der, von dem du dich immer fragst, warum es ihn nicht gibt.

Seite 45-65 Eine der seltenen eindeutigen zeitlichen Einordnungen erleben wir jetzt, demnach befinden wir uns im Jahr 1916, mitten im ersten Weltkrieg, "der einzigen Sache, die mich damals interessierte". Die Frauen würdigen die Entbehrungen der Frontsoldaten mit ihrer Mode, mit Schmuck, der in seiner Ornamentik an die Armee erinnert, hohen Gamaschen, die denjenigen der Soldaten ähneln, Ringen und Armbändern aus Granatsplittern.

Alles spricht von einer tiefen Wandlung, einer Kluft zwischen der Vorkriegszeit und dem Krieg. Für Geister, die gewohnt sind, sich im Innern eine eigene Welt zu schaffen, vollziehen sich solche Wandlungen allerdings eher in eigentlich bedeutungslosen Dingen: "...ein Vogellied im Park von Montboissier oder ein mit Resedaduft beladener Lufthauch sind offenbar Ereignisse von geringerer Tragweite als die größten Daten der Revolution und des Kaiserreichs. Dennoch haben sie Chateaubriand in seinen Memoires d'Outretombe Seiten von unendlich größerem Wert eingegeben."

Etwas verräterisch erscheint es, und wie eine Selbstbeschwörung, daß über den Text wieder Beteuerungen verstreut sind, wie wenig er noch an Albertine denke (nämlich gar nicht).

Aus Mangel an Kohlen und Licht macht der Salon der Verdurins in großen Hotels Quartier, was den Reiz aber eher noch erhöht, da sich die vielen Vergnügungen dort "auf kleinem Raum zusammendrängten gleich den Überraschungen, die man in einem Weihnachtsstrumpf entdeckt."

Am Himmel sieht man Flugzeuge wie winzige Insekten über Paris wachen und Soldaten auf Urlaub blicken vor der Rückkehr zu den Schützengräben durch die beleuchteten Fensterscheiben der Restaurants, worunter Marcel angeblich leidet. Der besondere Reiz dieser Tage ist die Verdunkelung der Stadt, denn "die Besuche, die man machte, bekamen Ähnlichkeit mit denen, die man Nachbarn auf dem Lande abstattet." Wie herrlich wäre es, sich jetzt im Freien mit Albertine zu treffen! "Zunächst hätte ich nichts gesehen, ich hätte die Aufregung durchgemacht zu glauben, sie habe das Rendezvous versäumt..." Man geht durch die Dunkelheit von Haus zu Haus, als besuche man einen Gutsnachbarn auf dem Lande. Naturelemente, die bis dahin in Paris nicht existierten, geben einem das Gefühl, die Ferien im Freien zu verbringen, alleine schon der Kontrast von Licht und Schatten an hellen Mondscheinabenden. Und wenn der Wind eisigen Hagel vor sich hertreibt, wähnt Marcel sich "weit mehr am Ufer des wütenden Meeres, von dem ich einstmals träumte, als seinerzeit in Balbec."

Unklares Inventar: - Madame Tallien.

  • Ein vornehmes Cachet.
  • Percin.

Verlorene Praxis: - Mit einer kleinen Grimasse zu verstehen geben, daß man nicht einmal zuverlässig wisse, ob eine Dame verheiratet sei oder nicht.

  • Leute, die man noch nicht kennt, von seiner Einbildungskraft als Vergnügen dargestellt sehen, als würden sie möglicherweise anders als die bisherigen sein.
  • Feststellen, daß jemand sein Haus von Bakst hat einrichten lassen, während einem selbst Dubuffe lieber wäre.
  • Zugang zu geistigen Kreisen haben, die seinem derben Gatten verschlossen bleiben.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Ich hatte bereits bei verschiedenen Personen bemerkt, daß das Zurschautragen lobenswerter Gefühle nicht die einzige Art ist, schlechte zu verbergen, sondern daß eine neue Methode im offenen Bekennen dieser minderwertigen besteht, wobei man dann wenigstens nicht den Anschein erweckt, als wolle man etwas verbergen."

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