Schmidt liest Proust
Dienstag, 2. Januar 2007

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 276-297

In unserer Wohnung gab es einen Museumsschrank, einen edlen Holzschrank mit Glasscheiben, der an besonderen Tagen, nicht viel öfter als einmal im Jahr, aufgeschlossen wurde, damit wir die Schätze besichtigen konnten. Wie bei den Renaissance-Wunderkammern war der Inhalt nicht unbedingt wertvoll, aber selten und lehrreich, vor allem hatten alle Gegenstände etwas mit der Familie zu tun. Ich erinnere mich an fast alles, was der Schrank enthielt: Ein Stück vom ersten Atlantikkabel. Mit Sanssouci-Motiven bemaltes KPM-Geschirr aus dem 18.Jh. Sternförmige Wassernussfrüchte, die der Urgroßvater in der Umgebung von Sacrow ins Wasser warf, weil er diese Pflanze für nützlich hielt. Ein Getrocknetes Seepferdchen. Eine Spielzeugwanduhr und Polsterstühlchen von der Oma. Eine stinkende Krabbe. Zwei winzige Heiligenbildchen in Öl aus dem 18.Jh. Eine Lederdose mit dem Schwanzende und dem Giftzahn einer Klapperschlange. Ein Steinbeil. Verschiedene Siegel, darunter ein barockes aus Messing mit einem roten Halbedelstein, in den die Arche Noah geschnitzt war. Eine silberne Taschenuhr zum Aufklappen von Opa Schweinberger. Eine südafrikanische Silbermünze. Ein Dollar. Eine echte Lappenmütze von einem Volk, das wirklich so hieß. Ein runder, federleichter Bezoarstein aus dem Magen einer Kuh. Eine Dose mit unseren Milchzähnen. Die Gipsabgüsse unserer Füße vom Orthopäden. Ein Stück blauweißer, japanischer Stoff. Chinesisches Porzellan mit kleinen Reiskornornamenten. Vom Großonkel Konrad meines Vaters kleine emaillierte Salzschüsseln aus Rußland. Eine Litophanie, mit der das Kerzenlicht am Krankenbett gedämpft wurde. Mit einem Berliner Eisenständer und einer gerahmten Porzellanscheibe, auf der die Platane zu sehen war, die immer noch vor dem Außenministerium steht. Eine Elle mit Perlmuttknöpfen als Maßangabe. Ein gewebtes Band von Andenindianern aus Bolivien. Ein langer Weihnachtsbaumkerzenlöscher. Eine Lichtschere mit angelötetem Näpfchen für den Docht. Tassen von einer schlesischen Nebenfabrik von KPM, mit Ansichten aus Schloß Carlsruhe bemalt, wo der Ururururgroßvater Schloßkaplan war. Aus Omas Nähkästchen knöcherne Gerätschaften zum Sticken und Klöppeln. Ein Pfeiffenputzsatz. Ein Rasiermesser. Ein Porzellanpfeiffenkopf von einer Deckelpfeiffe, mit einer Handmalerei von Burg Giebichenstein. Eine im ersten Weltkrieg von russischen Kriegsgefangenen gebaute Scheibe, auf der Hühner pickten, wenn man die an einer Schnur befestigte Kugel schwang. Vom Großvater Bergkristalle aus den Dolomiten, die aussahen wie Edelsteine, aber nichts wert waren. Der Schlagring, den die Oma in der Nachkriegszeit immer auf dem Nachttisch hatte. Ein weißes Porzellanbein, das als Votivgabe für die Kirche gedacht war, wenn man für seine Gliedmaßen beten wollte. Ein metallener Reliefkopf von Leibniz aus der Schinkelzeit. Eine Porzellantasse mit einem gemalten "Vielliebchen", einer Doppelmandel. Eine echte römische Öllampe (auf die der Urgroßvater "römische Öllampe?" geschrieben hatte) Eine Handspindel, ein Holzstab mit einem runden, tönernen Wirtelstein zur Stabilisierung. Ein Opernglas.

Der Schrank hatte Bohrwürmer, und mein Vater hatte ihn mit DDT-haltigen DDR-Holzschutzmittel behandelt. Wir haben sogar dran geleckt, weil es interessant schmeckte. Später erfuhr man von der verheerenden Wirkung von DDT, und wir denken seitdem, daß wir alle verseucht sind.

Seite 276-297 Börsengeschäfte, die Marcel, um Albertine Annehmlichkeiten zu bereiten, von einem Makler hatte unternehmen lassen, haben sein Vermögen auf ein Fünftel reduziert. Das würde die Leute in der Combrayer Sphäre schockieren, während man in der Welt der Guermantes "die Armut zwar gleichfalls als unangenehm, jedoch keineswegs als abträglich, vielmehr als etwas betrachtete, was die soziale Stellung nicht mehr berührte als ein Magenleiden." Gern würde er eine venezianische Glaswarenverkäuferin, die ihm schön wie ein Tizian erscheint, nach Paris mitnehmen und dort aushalten, aber reicht das Geld dafür noch?

Außerdem kommt, was man schon geahnt hatte: Albertine ist keineswegs tot. Eine Depesche von ihr vermeldet daß sie ihn heiraten will, sie schließt: "Alles Liebe Albertine", als wäre nichts gewesen. Aber Marcel bekommt keinen Nervenzusammenbruch, er ist auch nicht tief getroffen, sondern er empfindet nichts. Sie war für ihn ein Bündel von Vorstellungen gewesen, die ihren Tod überlebt hatten, bis das Vergessen die Bilder in einer Art Verlies tief in ihm eingemauert hatte. Nur weil sie wieder lebt, ersteht sie nicht auch in ihm zu neuem Sein.

Die Nachricht, daß sie am Leben ist, bewirkt, statt seine Liebe wiederzuerwecken, sogar das Gegenteil, sie beschleunigt die Rückkehr zur Gleichgültigkeit, wie die Nachricht vom Tod seine Liebe gesteigert hatte. Sie interessiert ihn nicht mehr. Und soll er ihretwegen auf die Glaswarenverkäuferin verzichten? Und für beide reicht das Geld bestimmt nicht. Außerdem: "Wir glauben ein junges Mädchen zu lieben und lieben doch – ach! – in ihr nur die Morgenröte, deren Schein für ganz kurze Zeit ihr Antlitz jeweils erhellt." Er gibt die Depesche zurück, sie sei nicht für ihn gewesen.

Erschreckende Konsequenz dieser Erfahrung: wenn man aufhört, einen Menschen zu lieben, weil man aufhört ihn zu sehen, geht einem das auch mit dem eigenen Körper so, wenn die Bande, die einen daran knüpfen vom Tod getrennt werden? "Unsere Liebe zum Leben ist nur eine alte Liaison, von der wir nicht loskommen können." Der Tod wird uns von dem Verlangen nach Unsterblichkeit heilen.

Die Mutter setzt den Tag der Abreise fest, und er fühlt sich sofort um die vielen Frauen betrogen, denen er in Venedig noch begegnen könnte. Als sei er wieder das trotzige Kind, behauptet er bleiben zu wollen, und die Mutter tut lieber so, als glaube sie ihm nicht, antwortet nicht einmal und begibt sich zum Bahnhof, während er auf der Terrasse sitzen bleibt, sich ein Erfrischungsgetränk bringen läßt und einen Gondoliere O sole mio singen hört. Aber kaum ist die Mutter fort, zerfällt das traumhafte Venedig für ihn wieder in eine rein physische Angelegenheit, er fühlt sich fremd. Trotzdem kann er nicht aufbrechen: "Ich hätte mich entscheiden müssen, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren. Doch das gerade konnte ich nicht..." In einer seltsamen Erstarrung hört er das endlose, unbedeutende Lied an. Ohne Vergnügen, nur mit tiefer, fast verzweifelter Trauer, folgt er den Strophen. Statt sich zu sagen "ich reise nicht", harrt er, was dasselbe bedeutet, bis zum Ende aus. Und weil das Lied ihm die Entscheidung abzunehmen scheint und für die Zeit steht, die er noch hätte, der Mutter hinterherzueilen, trifft ihn "jeder Ton, den die Stimme des Sängers mit einer vom Muskelapparat her erzeugten Kraft und Ostentaion hervorbrachte" mitten ins Herz.

Endlich erwacht auf einmal doch das Handeln in ihm, und er rennt zum Zug, den er kurz vor der Abfahrt noch erreicht. Die Mutter kann mit Mühe ihre Tränen beherrschen: "Deine Großmutter hat immer wieder gesagt: 'Es ist merkwürdig, niemand kann zugleich so unerträglich und nett wie dieser Kleine sein.'"

Unklares Inventar: - Korduanleder.

  • Calzabrüder.
  • Schüler von Garros, die sich im Schwebeflug üben.

Verlorene Praxis: - Als Mutter, da man sieht, daß der Sohn sich lange einer träumenden Betrachtung von Mosaiken hingeben will, die die Taufe Christi darstellen, ihm, wenn man die eisige Kühle spürt, die von der Decke des Baptisteriums fällt, einen Schal um die Schultern legen.

Bewußtseinserweiterndes Bild: - "Im Vorbeifahren sahen wir vom Zug aus Padua, dann Verona uns entgegeneilen und zum Abschied fast bis an den Bahnhof kommen, denn während wir uns entfernten, kehrten beide, da sie nicht ebenfalls sich in Bewegung setzten, sondern ihr Leben weiterführten, das eine zu seinen Feldern, das andere zu einem Hügel zurück."

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