Schmidt liest Proust |
Samstag, 23. Dezember 2006
Berlin - VI Die Entflohene - Seite 88-102 jochenheißtschonwer, 23.12.06, 21:57
Seite 88-102 Inzwischen zieht sich sein Herz schon beim "Glucksen der Dampfheizung" zusammen, weil es ihn an den Nachmittag von Albertines Besuch bei ihm erinnert, als er sie das erste Mal geküßt hatte. Man muß wirklich aufpassen, mit wem man sich einläßt, und was einen später an ihn erinnern wird, wenn man z.B. von einem Bäcker verlassen wird, wird man den Geschmack von Brot nicht mehr ertragen, und Schriftsteller verleiden einem Buchstaben, und womöglich sogar die geliebte Buchstabensuppe. "Immer auch hatte ich, aus Furcht, Albertine zu verderben, an Abenden verständnislos getan, an denen sie mir Formen der Lust anzubieten schien, die sie vielleicht nicht bei anderen gesucht hätte und die jetzt ein wütendes Verlangen in mir weckten." Das ist überraschend und etwas unglaubwürdig. Er hätte auf Formen der Lust verzichtet, um sie nicht zu verderben? So kennen wir ihn gar nicht. "Die Kunst ist nicht das einzige, was die unbedeutendsten Dinge mit dem Zauber und Geheimnis zu umhüllen vermag; die gleiche Macht, sie in tiefinnerliche Beziehung zu uns zu setzen, ist auch dem Schmerz gegeben." Noch mehr davon, und ich gehe in die Knie. Ich war gerade dabei, mir ein Leben ohne Schmerz zu wünschen. "...denn eine Frau ist von großem Nutzen für unser Leben, wenn sie darin anstatt eines Glückselements für uns ein Werkzeug des Leidens ist, und es gibt keine einzige, deren Besitz so köstlich ist wie der jener Wahrheiten, die sie uns entdeckt, indem sie uns leiden macht." Ein Besitz, auf den ich gerne verzichte, dann werde ich eben nicht unsterblich, aber dafür lebe ich wenigstens ohne den Wunsch, vor meiner Zeit zu sterben. Wenn es nicht ohne Erinnerungen an sie geht, die sich anfühlen "wie ein Chirurg, dessen Hand etwa nach einem Geschoß in unserem Herzen sucht", schreibe ich in Zukunft lieber für den Kicker statt für das Marbacher Literaturarchiv. Die eigenartige Übertragung der eigenen Zärtlichkeitswünsche auf den anderen: "Wenn wir von der 'Liebenswürdigkeit' einer Frau sprechen, projizieren wir vielleicht nur das Vergnügen aus uns heraus, das wir bei ihrem Anblick empfinden, wie Kinder es tun, wenn sie sagen: 'Mein liebes Bettchen, mein liebes Kopfkissen'..." Am Ende hat man noch Mitleid mit ihr, weil sie mit einem Schluß gemacht hat, und man sich vorstellt, wie allein sie jetzt ist, statt sich vorzustellen, daß sie ein Problem weniger hat. An dieser Stelle muß ich heute abbrechen, ich schaffe die letzten 7 Seiten nicht zu lesen, es tut mir leid. Ich kann mich nicht konzentrieren und ich habe auch das Gefühl, daß ich mich mit Proust langsam aber sicher vergifte. Sie anzurufen und wiederzusehen war natürlich ein Fehler, ich dachte, ich hätte mich im Griff und jetzt fühlt man sich, als würde einem jemand die Innereien auswringen. Sie will allein bleiben, daran wird sich nichts ändern, und sie beschreibt das zwar als psychisches Manko, unter dem sie leidet, aber sie scheint damit leben zu können und ich bin jedenfalls kein Grund für sie, etwas daran ändern zu wollen. So hat man also seinen Meister gefunden und denkt mal wieder, daß es nie so schlimm war, obwohl man weiß, daß es immer am schlimmsten ist. Natürlich war man gerade deshalb von ihr angezogen, weil ihr auf die Stirn "Verhängnis" geschrieben war, in einer diabolischen Kombination mit einem einladenden und fast kindlichen Lächeln. Vielleicht gehört mehr Reife dazu, sich damit zufrieden zu geben, nur eine der Persönlichkeiten in einer leicht schizophrenen Person zu lieben. Glücklich sind Menschen, die fähig sind die zu lieben, von denen sie geliebt werden, das ist der ganze Trick. "Deconstructing Harry" war immer einer meiner Lieblingsfilme von Woody Allen gewesen (im übrigen beschreibt er in dem Film den Vorteil von Prostituierten: "man muß nicht über Proust und Filme diskutieren..."), jetzt kann ich den Film kaum ertragen, eine Orgie von Fremdgehen und sich gegenseitig Ausspannen, und im Mittelpunkt ein gequälter, zur Lieblosigkeit verurteilter Mensch, dessen Trost in seiner Fähigkeit, Geschichten zu erzählen liegen soll. Was für ein erbärmlicher Ersatz für die Realität eines geliebten Menschen. Bin ich drauf und dran den alten Faust-Vertrag aufzukündigen und einmal im Leben mein Werk dem Wunsch nach Glück unterzuordnen? Wie hat ausgerechnet sie das geschafft? Oder war es sowieso so weit, und sie hat nur die Schleuse geöffnet? Welchen Sinn hat es, immer alles zu sublimieren, damit dann 500 Leute ein Buch kaufen, das vielleicht noch nicht einmal gut ist? Aber es gibt keinen Grund zu klagen, anderen geht es nicht besser, und sie haben noch nicht mal die Möglichkeit, sich durch Schreiben Luft zu verschaffen. Aber ist es wirklich so, verschafft man sich Luft, oder reitet man sich nur immer tiefer rein, wenn man in der Vorstellung lebt, Leiden würden einen zu einem tieferen Menschen und damit auch zu einem besseren Autor machen? Was für eine masochistische Illusion, diese Manie, seine Fehler schönzureden. Andererseits vielleicht auch wieder besser, als wenn alles umsonst war. Wie bin ich in diese Fiktionsfalle geraten? Wann hat das angefangen, daß man sich damit tröstete, alles als Geschichte zu sehen? Ein Mann der Tat sein, mit Narben im Gesicht, statt einer, der immer nur Worte macht und den Glücklichen hinterherwinkt. Und endlich die Ratte Hoffnung in sich erwürgen, vorher kann es keine Auferstehung geben. Verlorene Praxis: - Sein Unrecht darin sehen, nicht stärker den Versuch gemacht zu haben, sie in sich selbst zu begreifen. Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Und doch zuckt aus der Schwäche, die man jahrelang mit sich schleppt, zuweilen einem Blitzstrahl gleich etwas wie Tatendrang auf."
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