Schmidt liest Proust
Freitag, 22. Dezember 2006

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 67-88

Verlorenes Glück hat auch seine Schönheit, man darf nur nicht nachdenken und die Situation in die Zukunft projizieren. Man muß eine Weile nur Sinneswahrnehmungen sammeln, um das Kopfkino auszuschalten. Unter den Linden, nachts auf dem Fahrrad, wenn die Bäume mit Lichterketten geschmückt sind, aber ohne die unwillkürliche Erinnerung daran, wie man hier als Kind manchmal zehn Minuten auf eine Lücke im Verkehr gewartet hat, um die Straße zu überqueren und im Hauptgebäude der HU (weiß ich den Raum noch?) bei der Mathematischen Schülergesellschaft Aufgaben zu lösen. Wir waren fast nur Jungs, aber die Mädchen gingen zum Russischklub, und ich konnte ja nicht wissen, daß mich Russisch 20 Jahre später einmal interessieren würde. Man kann so jung doch nicht schon nur noch aus Erinnerungen bestehen. Sie machen es einem ja leicht, indem sie Gebäude, wie den Palast der Republik, schon zu unseren Lebenszeiten abmontieren, wie eine Kulisse, die nicht mehr gebraucht wird.

Bei Dussmann vor dem Regal mit DVD's von Fernsehserien stehen, ich hätte meine ganze Kindheit mit etwas anderem verbringen und mir die Serien jetzt, wo ich solange aufbleiben darf, wie ich will, am Stück ansehen können. Wenn man sich vorstellt, daß es das alles noch nicht geben würde, wie gut, daß wir so spät geboren sind. Und was es in 50 Jahren geben wird, wovon wir nichts ahnen? Oder wird das Fernsehen dann auch ein totes Medium sein, wie heute das Theater oder die Oper, und niemand schaltet mehr ein?

Warum man gerade in der Schlange bei Dussmann, wo sie ohne etwas zu leisten mit dem Geld tausender Kunden überschüttet werden - die sich sogar noch selbst auf den Weg machen, ihr Geld persönlich abzuliefern, statt daß der, der das Geld haben will, sich zu ihnen bemüht-, die Nerven verliert und bei ihr anruft, wo doch so ein selten gewordenes Gespräch etwas besonderes und gut vorbereitet sein sollte. Und wenn dann keiner rangeht, merkt man gleich, daß man noch keinen Schritt weiter war, weil man immer noch Hoffnungen hatte, und solange wird man auch noch leiden. Vielleicht sollte bei den Sopranos einsteigen, das sind noch einmal 60 Stunden Realitätsflucht, jetzt wo ich mit "Curb" fast durch bin.

Meine Schrumpfform von Glück wird sich wieder einstellen, wenn die geistige Gier die Überhand gewinnt, wenn man wieder ein zurückgezogenes Leben mit den Büchern und wenigen Ausflügen in die Realität führt. Für bestimmte Zeiten geht das ja auch. In den Filmen werden solche schrulligen, herzensguten Intellektuellen immer von sagenhaft schönen Frauen mühsam wachgeküßt und entdecken eine Wahrheit, die ihnen in den Büchern verborgen geblieben war. Wahrscheinlich, weil diese Filme genau von solchen Typen geschrieben werden. Was einen zur Zeit quält sind alle Formen von Erotik in der Öffentlichkeit, wie die Ankündigung für diese Berliner Erotik-Show mit Anspruch. Und diese New-Yorker-Werbung, die zur Zeit im Kino läuft, eine junge Frau heiratet einen reichen, alten Mann, in der Hochzeitsnacht erspäht er durchs Schlüsselloch, wie sie in der Unterwäsche auf dem Bett tanzt. Vor Vorfreude auf das in Reichweite liegende bekommt er einen Herzinfarkt, und das Anwesen gehört ihr. Das ist so widerlich und zynisch, weil man als Mann ja immer so vor der Frau steht, die man will, weil man sie nicht kriegen kann. Und es würde nichts nützen, in den Tavernen der Stadt ein Heer von Griechen auszuheben, um ihr Haus zu belagern, weil sie inzwischen selbst entscheiden darf, von welchem Land sie die Königin sein will.

Seite 67-88 Auch Proust spricht von einem Schmerz "der aus Mangel an konkreten Bildern erträglich war." Warum will man dann wissen, was sie macht, wer einen ersetzt, und wie es ihr geht? Man würde die Wahrheit gar nicht ertragen. Der Kranke zieht seine Hoffnung aus einem Nichts, auf die absurdeste, weit hergeholte Weise. Weil Marcel zufällig ein Flurgespräch mithört, in dem sich Saint-Loup ungekannt rüde zeigt, fühlt er sich in seinem Vertrauen zu ihm erschüttert. Das nun wieder zeigt ihm, daß Saint-Loups Mißerfolg bei Albertines Tante nichts zu bedeuten haben muß, er könnte ja ein Verräter sein.

Und wenn ihr ein Unfall zustoßen würde? "...so hätte ich, anstatt daß mein Leben für immer von dieser nie endenden Eifersucht vergiftet wäre, auf der Stelle nicht vielleicht gerade das Glück, aber doch durch Beendung des Leidens die Ruhe wiedergefunden." Eine etwas eilig hingeworfene Andeutung, denn wenig später wird ja genau das passieren. Und natürlich kurz vor der Versöhnung. Er schickt Albertine ein Telegramm und formuliert seine Bedingungen neu: "Sie könne tun, was sie wolle, ich bäte sie einzig darum, mich dreimal in der Woche, bevor sie schlafen gehe, eine Minute zu küssen." Diese drei Küsse würden sich für sie rechnen... Aber nun kommt die Wendung, die etwas nach Drehbuchseminar klingt, Albertine ist bei einem Ausritt vom Pferd gegen einen Baum geschleudert worden. Sofort wird Marcel klar, daß er nie ganz daran geglaubt hatte, daß sie wirklich nicht wiederkehren werde. "Mein ganzes zukünftiges Leben war aus meinem Herzen gerissen." Wie es das Drehbuch verlangt, treffen auch noch zwei posthume Briefe von ihr ein. Im ersten beglückwünscht sie ihn zu seinen Plänen mit Andrée. Aber im zweiten fleht sie ihn an, ihn zu sich zurückzurufen. Damit ist das Melodram perfekt, das Glück war greifbar, ist seinen Händen aber entglitten.

Und natürlich hilft ihr Tod ihm nicht weiter: "Damit der Tod Albertines meine Leiden hätte hinfällig machen können, hätte der Unglücksfall sie nicht nur in der Touraine, sondern auch in mir selbst ums Leben bringen müssen. Niemals aber was sie gerade dort lebendiger gewesen." Die Erinnerungen an sie paradieren vor seinem inneren Auge, wie die Old Shatterhands, als er den sterbenden Winnetou in den Armen hält und an glücklichere Tage denkt. "Um mich zu trösten, hätte ich nicht eine, sondern unzählige Albertinen zu vergessen nötig gehabt." Das "durch die Reizwirkung identischer Augenblicke unaufhörlich erneuerte Wiederaufleben irgendwelcher früher durchmessenen", das ihm in seiner Einsamkeit immer ein Vergnügen gewesen ist, wird jetzt zum täglichen Spießrutenlauf. Das Geräusch des Regens (Einnerung an Combray), das Spiel der Sonne auf dem Balkon, die erfrischende Kühle von Kirschen, das Rauschen des Windes (Bretagne), die Osterzeit (Venedig). Es wird Sommer, und er liegt in seinem verdunkelten Zimmer und es reicht schon ein Spalt Licht, der durch die Vorhänge dringt, damit er einen Schrei unterdrücken muß, weil er sich an einen Sonnenstrahl erinnert fühlt, den er mit Albertine gesehen hat. So gehen tausend unsichtbare Erinnerungen in jedem Augenblick "im Dunkel ringsumher auf mich nieder." Und es gibt noch kein Fernsehen, selbst das Kino ist noch sehr wacklig und schwarz-weiß, also keine große Hilfe dabei "...meinem Gedächtnis Augen und Ohren zu verstopfen..." Françoise ist zwar offenbar glücklich über Albertines Tod, aber: "In ihrem Bemühen, meinen Tränen Einhalt zu gebieten, wirkte sie derart besorgt, als handle es sich um Ströme von Blut." Und manche haben ja noch nicht mal eine Haushälterin.

Wollte er die Erinnerung an Albertine abstreifen, müßte er die Jahreszeiten vergessen und alles von neuem kennenlernen "so wie ein von halbseitiger Lähmung betroffener Greis noch einmal lesen lernt; ich hätte auf das ganze Universum vorerst einmal Verzicht leisten müssen." Am besten, man erlebt seine Liebesgeschichten in Neukaledonien oder im ewigen Eis, dann hält sich der Assoziationsterror dem man ausgesetzt ist, nachdem man verlassen wurde, vielleicht in Grenzen.

Eine letzte Frage stellte sich mir heute: Wo ist eigentlich Marcels Vater? Seit ein paar Bänden ist er wie vom Erdboden verschluckt. Ich hoffe, meine Verwandten gehen mit mir mal anders um.

Verlorene Praxis: - Die Augen eines Menschen haben, dessen Geist aus den Fugen gerät.

Verstorben: - Albertine.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Wie endlos stirbt der Tag an solchen langen Sommerabenden!"

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