Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 21. Dezember 2006
Berlin - VI Die Entflohene - Seite 46-67 jochenheißtschonwer, 21.12.06, 14:26
Im Land der ungebremsten Leidenschaft ist jeder ständig auf jeden eifersüchtig, und weil man sich öfter duellieren möchte, als man jemanden findet, der einen beleidigt, gibt es Duellautomaten, die einen beschimpfen (wofür sie ein persönliches Profil erstellen), und per Zufallsgenerator einen Schuß auf einen abgeben. Wenn man den Automaten zuerst trifft, kann man sich mit einem Namenskürzel in die Hall of fame seiner Mörder eintragen. Kaum jemand geht noch arbeiten im Land der ungebremsten Leidenschaft, weil es zu gefährlich wäre, jemanden, der unter Tagträumen leidet, an ein Lenkrad zu setzen oder Fenster putzen zu lassen. Und wer will die Straßenfeger immer wieder dazu antreiben, weiterzufegen, wenn sie alle paar Schritte stehenbleiben, sich auf den Besen stützen und einer Leidenschaft hinterhersinnen? Es ist schmutzig im Land der ungebremsten Leidenschaft, schmutzig und anstrengend, denn schlechter Service herrscht vor. Alle sind vor Liebe blind und merken nicht, wenn die zerstreute Friseuse sich verschnitten hat, deshalb sieht man viele mißglückte Frisuren. Alle lassen dauernd alles fallen, deshalb ist Plaste sehr beliebt. In allen Restaurants bekommt man versalzenes Essen, weil die Köche verliebt sind. "I will do anything for you" ist die Nationalhymne, und schon die Kindergartenkinder singen Kuschelrock. Männer gehen für immer verloren, weil sie wildfremden Frauen nachlaufen und den Rückweg nicht finden. Die Frauen bekommen so viele Geschenke, daß viele davon leben können. An den Straßenecken bilden sich spontane Selbsthilfegruppen und verschaffen sich mit speziellen Dehnübungen Linderung. Niemand würde zum Alkohol greifen, um das Vergessen zu suchen, denn es gilt als unehrenhaft, seine Gefühle zu verleugnen. Wenn wieder jemand neben einem in Tränen ausbricht, sagt man: "Liebe!" zu ihm, so wie man früher "Gesundheit!" gesagt hat, wenn jemand niesen mußte. In bin in diesem Land der einzige Normale. Generell muß man ja gefestigt sein, wenn man sich als Normaler in der Minderheit befindet, aber wenn man sogar der einzige Normale in einem ganzen Land von Unnormalen ist, und die Unnormalen einem suggerieren wollen, daß man in Wirklichkeit der einzige Unnormale unter Normalen sei, muß man einen starken Charakter haben. Wie ein Arzt unter Pestkranken bewege ich mich durch die Straßen, betrachte die Verheerungen der Leidenschaft und puffe jungen Männern aufmunternd gegen die Brust. Das ist eine Geste, zu der ältere Herren neigen, die beim Militär waren, ich kenne sie aus Amerika. Sie kostet nichts und bewirkt viel. Seite 46-67 Saint-Loups Besuch bei ihrer Tante bleibt von Albertine nicht unbemerkt, sofort schreibt sie Marcel, er solle solche Schritte unterlassen. Dieser schreibt ihr ausladend zurück. Mit diplomatischem Geschick wird die Jacht erwähnt, die er ihr kaufen will, auch das schöne Automobil, was soll er nur damit anfangen, jetzt wo er sie ihr nicht mehr schenken kann? Ihr zu schreiben ist natürlich nicht das richtige Mittel, er sollte sie lieber vergessen. "Doch das psychopathologische Universum ist so fatal konstruiert, daß die ungeschickte Handlung, diejenige, die man vor allem vermeiden müßte, gerade die beruhigende ist, die Handlung, die für uns, bis wir das Ergebnis kennen, neue Perspektiven der Hoffnung eröffnet und uns für kurze Augenblicke von dem unerträglichen Schmerz befreit, den eine Weigerung in uns hat aufkommen lassen." Er bietet ihr also die Heirat an. Aber was, wenn sie auf seinen Brief eingeht? Sofort fallen ihm wieder die mit einer Heirat verbundenen Kalamitäten ein, und er überlegt, ob er den Brief nicht lieber zurückbeordern sollte. Aber da bringt Françoise den Brief auch schon zurück, sie hatte nicht gewußt, wieviele Marken sie draufkleben sollte. Jetzt könnte er ihn ja zerreißen, aber er schlägt die ebenfalls von Françoise gebrachte Zeitung auf und liest, daß die Berma tot ist. Phädra fällt ihm ein, und plötzlich wird ihm bewußt, daß das Stück Szenen enthält, die "eine Art von Prophezeiung der Liebesepisoden meiner eigenen Existenz" sind. Diese mise en abîme ist sicher sehr kunstvoll ausgeführt, nur daß ich mich an Phädra, trotz Lektüre, nicht erinnern kann. Für Marcel reicht diese kurze Erinnerung an seine Leidenschaft, den Brief doch abzuschicken. Aber dieses Hin und her der Entschlüsse ist schon bemerkenswert. Es gibt nun einmal keine Lösung, das große Gefühl der Evidenz, von dem alle träumen, wird sich nie einstellen, Zweifel sind nicht auszuschalten. Mit der gesunden Doppelmoral der Männer seiner Epoche wäre ihm sicher weitergeholfen, warum erhebt er die Wahl der richtigen Frau zu solch einer existentiellen, seine autonome (Künstler-)Existenz bedrohenden Frage? "Seitdem Albertine fort war, schellte ich sehr häufig, wenn mir schien, man könne nicht sehen, daß ich geweint hatte, nach Françoise..." Und wenn es noch mehr sehen sollen, schreibt man ein Buch. Nun entdeckt Françoise beim Aufräumen einer Schublade in Albertines Zimmer zwei Ringe mit eingraviertem Adler. Hat Albertine Geschenke von einem fremden Mann angenommen? "Wenn ich mich in der Arzneischachtel getäuscht und anstelle einiger Veronaltabletten an irgendeinem Tag, an dem ich spürte, daß ich zu viele Tassen Tee getrunken hatte, ebenso viele Koffeintabletten genommen hätte, würde mein Herz nicht heftiger haben schlagen können." Der Schnabel des Adlers hält sein Herz in den Zangen, die Flügel tragen das Vertrauen davon, in den Fängen schmachtet sein verwundeter Geist! Ihr schließlich eintreffender Antwortbrief enthält (für den objektiven Leser) nichts hoffnungsvolles. Aber ihn inspiriert er zum nächsten Schritt. Er schreibt ihr prompt zurück und kündet ihr an, mit Andrée leben zu wollen. Sie so zu belügen, scheint ihm das einzige Mittel, sie zur Rückkehr zu bewegen. Ein Schlagabtausch auf höchstem Niveau. Verlorene Praxis: - Sich als Frau beim Freund mit neuen Vorzügen anreichern, die einen zu einem vollkommeneren Wesen umgestalten.
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