Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 7. Dezember 2006
Berlin, Warschauer Straße, Firstbase Internet - Die Gefangene, Seite 299-320 jochenheißtschonwer, 07.12.06, 14:16
Mit der Post kam die neue "Edit" mit einer längeren Erzählung von mir "Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum". Eigentlich hatte ich damit in diesem Jahr den Bachmannpreis gewinnen wollen, aber ich bin wieder nicht eingeladen worden und habe auch nicht erfahren, ob es am Text lag, an mir, oder am Zufall. Im Moment wüßte ich nicht, wie ich noch einmal ein so großes Thema finden sollte, in dem Text steckt alles, was ich an Ernsthaftem überhaupt zu sagen habe. Jeder Absatz sollte in maximaler Knappheit eine der brutalen Pointen enthalten, in denen sich das Leben immer wieder als unser Meister erweist. Kindheit, Tod, Krieg, Natur, Schreiben, Zeit, Nostalgie, alles, was sich mit den Aufenthalten im Kinderparadies auf dem Land verbindet. Ich glaube, ich habe noch nie so lange an einem Text gefeilt. Jetzt steht er in diesem Heft, das kaum jemand kennt, und wird die Welt auch nicht verändern. Das traurige ist, daß so eine Veröffentlichung überhaupt keine Gefühle mehr auslöst, während ich mich noch bei meiner ersten Publikation in der Zeitschrift "Boxsport" ("Die Ballade vom Eisernen Mike, der seinem Gegner Heiligfeld ein Ohr abbiß") vor Aufregung erst zu Hause getraut hatte, das Blatt aufzuschlagen. Seite 299-320 Eine Kategorie für Bücher, von der ich noch nicht weiß, ob sie eigentlich gut oder schlecht ist: Bücher, in denen fiktive Kompositionen detailgenau beschrieben werden. Über Musik zu schreiben ist ja schon eigenartig genug, aber dann auch noch über Musik, die gar nicht existiert? Ich glaube, in "Doktor Faustus" hatte sich das trotzdem sehr interessant gelesen, Proust fällt dagegen für meinen Geschmack etwas ab. Immerhin hat er denselben ironischen Blick auf die spitzweghaften Musikfreunde, die dem Werk lauschen: "Ich blickte auf die Padrona, deren leidenschaftliche Unbewegtheit dagegen zu protestieren schien, daß die Damen des Faubourg die jeder Ahnung baren Köpfe wiegend den Takt angaben." (Der Satz ist korrekt zitiert, aber irgendetwas daran scheint nicht zu stimmen.) Genauso habe ich neulich bei Yo la tengo gestanden, vor mir wie immer ein Bataillon von zwei-Meter-Kerlen, zu deren Aftershave ich gerne Abstand gehalten hätte, wenn die Lücke, also der Raum um mich, der meiner Meinung nach zu mir gehört, wie mein Körper, nicht immer sofort wieder gefüllt worden wäre. Da mich die Musik nicht richtig berührte, konnte ich nicht verhindern, daß ich das mit dem Kopf wippen der anderen albern fand. Manche schlossen sogar die Augen, was ich auch irgendwann tat, aber aus Müdigkeit, und weil mein Rücken wehtat. Meine größte Angst war, man könnte ihr pathetisches die-Augen-schließen mit meinem leidenden verwechseln. Meine leidenschaftliche Unbewegtheit war ein einziger Protest. Ich glaube, ich habe dadurch auf die Bewegungen innerhalb der gesamten Zuhörermasse eingewirkt, wie sich das Wasser ja auch schon weit vor der Klippe anders kräuselt. Die musiktheoretischen Überlegungen wirken etwas abgestanden. Vinteuils Septett, wie kommt ein Komponist zu seinem Tonfall? "...getrennt von dem anderer Komponisten durch einen weit größeren Unterschied, als wir ihn zwischen den Stimmen zweier Personen oder zwischen dem Brüllen und dem Schrei zweier Tierarten wahrnehmen können." Die musikalische Spekulation des Komponisten, ein nichtanalytisches Denken aus der Welt der Engel, das wir "ebenso wenig in eine menschliche Sprache zu überführen vermögen, wie vom Körper längst befreite Geister es könnten, wenn sie von einem Medium beschworen und nach dem Geheimnis des Todes befragt werden." "Jeder Künstler scheint so der Bürger eines unbekannten Vaterlandes zu sein, das er selbst vergessen hat und das von jenem völlig verschieden ist, aus dem ein anderer großer Künstler zur Erde herniedersteigt." Muß man sich in den Pausen wieder den Menschen zuwenden, empfindet man die ungeheure Banalität dieser Welt gegenüber der musikalischen, dieser "Offenbarung eines unbekannten Freudentyps." Und, vertrackt wie das Leben ist, verdankt Marcel diese Offenbarung ausgerechnet der Freundin von Vinteuils Tochter, die die hieroglyphengleichen Notizen des verstorbenen Komponisten rekonstruiert hat. Das heißt, Marcel leidet wegen dieser Frau und ihrer vermuteten früheren Beziehung zu Albertine Höllenqualen, und andererseits verdankt er ihr das Höchste. Das ist geschickt arrangiert. Denn er versteht den "seltsamen Anruf" durch das Stück "der wie ein Versprechen war, daß es noch etwas anderes gebe – etwas, was zweifellos die Kunst verwirklichen kann, etwas anderes als das Nichts, das ich in allen Vergnügungen und in der Liebe selbst gefunden hatte – und daß, wenn mein Leben mir eitel schien, es wenigstens noch nicht an seinem Ende angekommen war." Also Adé, Hoffnung auf Lebensglück, auf Liebe, ja, auch nur auf Vergnügen, ab jetzt gibt es das alles nur noch im künstlerischen Schaffen. Zum Schluß gibt es noch einen weiteren Tod zu vermelden, die Unglücksfälle in der Bekanntschaft häufen sich, wie bei alten Menschen, man würde sonst auch kaum merken, wie im Roman die Zeit vergeht (ist uns der erste Weltkrieg eigentlich unterschlagen worden?) Den gebeutelten, von den Verdurins ständig in sadistischer Weise gedemütigten Saniette trifft, nachdem er wegen einer angeblich unpassenden Bemerkung über Vinteuils Musik des Hauses verwiesen worden war, im Hof der Schlag. Unklares Inventar: - Theorbe.
Bewußtseinserweiterndes Bild: - Der Cellist "neigte sich über die Saiten, er betastete sie mit der gleichen hausfraulichen Geduld, als putze er einen Kohlkopf ab..."
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