Schmidt liest Proust
Mittwoch, 29. November 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 130-152

Der Serotonin-Spiegel soll schuld sein, vor allem an den abendlichen Krisen. Um mehr davon zu verstehen, müßte man allerdings noch einmal auf die Welt kommen, dann aber mit einem Gehirn, das in der Lage ist, sich für Chemie zu interessieren. Jedenfalls scheint es ein Neurohormon zu sein, das in der "Raphe" ausgeschüttet wird, eines der Organe, die man bisher nie vermißt hat. Wenn es eine Tablette gegen diesen Zustand gäbe, würde man sie nehmen? Vielleicht gleich auch gegen alle anderen unangenehmen Gefühle, wie Neid, Angst, Ungeduld, Gier? Als Mensch, der vollständig davon befreit wäre, müßte man auf die übrigen wie ein Monster wirken. Aber ich weiß nicht, warum man sich alles Schlechte im Leben immer dadurch schönreden muß, daß es angeblich den Reiz unserer Existenz ausmacht, ich wäre lieber eine Pflanze oder ein Otto-Motor. Es ist doch wie mit Zahnschmerzen, man hat längst verstanden, was der Körper einem sagen will, man hat schon einen Zahnarzttermin, also ist es doch nicht nötig, die ganze Zeit daran erinnert zu werden. Wenn Emotionen hoffnungslos sind, warum können sie dann nicht einfach aufhören?

Was alles nicht hilft: - Die Namen der römischen Kaiser wiederholen.

  • 20 Klimmzüge.
  • Baldrian-Dispert.
  • Rotwein.
  • Abitur.
  • Sich selbst auf einer Videoaufnahme Fußballspielen sehen.
  • Die neue C&A Dessous-Kampagne.
  • Schokolade.
  • Sätze, wie: "Sieh es doch positiv, es ist doch eigentlich schön, zu spüren, daß man noch etwas empfinden kann."
  • Einmal die Woche an ihrem Fenster vorbeijoggen.
  • Ein Handy.
  • Nichtraucher sein.
  • Proust lesen.

Seite 130-152 Jeden Abend bekommt er einen Gutenachtkuß von Albertine, aber Kuß ist nicht gleich Kuß: "Heute abend jedoch ließ mich ihr Kuß – in dem nichts von ihr selber lag und der mich innerlich nicht bewegte – so angstvoll, mit so heftig pochendem Herzen zurück..." daß er nach einem Vorwand sucht, sie zurückzurufen. Wird er auf diese Weise unweigerlich zum emotionalen Bettler? "...ich sprang aus dem Bett, als sie bereits in ihrem Zimmer war, ich ging im Korridor auf und ab, in der stillen Hoffnung, daß sie mich rufen werde..." (nur ein Wahnsinniger kann solche absurden Hoffnungen hegen, warum sollte sie ihn rufen, sie weiß ja von nichts, und selbst wenn, dann hat sie schon ihre Gründe, ihn nicht zu rufen.) "...ich stand reglos vor ihrer Tür, um beleibe nicht eine noch so leise Aufforderung zu überhören..." (sollte eine Aufforderung ihrerseits nicht klar und deutlich geäußert werden? Sie würde schon dafür sorgen, daß er sie nicht überhört, wenn ihr wirklich etwas daran läge.) "...ich kehrte einen Augenblick in mein Zimmer zurück, um nachzusehen, ob meine Freundin nicht zu meinem Glück dort etwas vergessen hätte..." Aber er findet nichts, und so steht er unbeweglich Posten vor ihrer Tür "...von Hoffnung auf ich weiß nicht was erfüllt, was jedenfalls nicht eintrat; erst lange danach kehrte ich durchfroren zurück, streckte mich unter meine Decke und weinte die ganze Nacht."

Um solche Situationen zu vermeiden, greift er zu einer List, er lädt sie abends in sein Zimmer, wo sie sich, wie er weiß, auf dem Bett ausstrecken wird, sobald er unter einem Vorwand kurz hinausgeht. Da sie sehr schnell einzuschlafen pflegt, liegt sie bei seiner Rückkehr schlafend da, und er kann sich in ihre Arme mogeln. Und am Morgen: "Sobald sie die Augen lächelnd halb geöffnet hatte, bot sie mir ihren Mund, und ehe sie noch etwas sagte, hatte ich schon seine kühle Frische gespürt, die so friedevoll war wie ein Garten, der noch schweigend ruht vor dem Erwachen des Tages." Der aufmerksame Leser wird hier zweifelnd anmerken, daß niemandes Mund beim Erwachen eine "kühle Frische" birgt.

Und wieder wird über die Natur des Schlafs nachgedacht. Daß man beim Aufwachen noch nicht weiß, wer und wo man ist. Spricht man dann ein paar vernünftige Worte zu jemandem, statt einfach das zu sagen, was einem traumbedingt noch auf den Lippen liegt, bedeutet das "...die gleiche Anstrengung einer Wiederherstellung des Gleichgewichts für mich wie für einen Menschen, der aus einem bereits fahrenden Zug abspringt, dann, wenn er einen Augenblick in der Fahrtrichtung weiterläuft, der Akt, trotzdem nicht hinzufallen."

Und ein überraschendes Bekenntnis: "In jedem Augenblick muß man zwischen der Gesundheit, der Vernunft auf der einen und den subtilen Genüssen des Geistes auf der anderen Seite wählen. Ich habe immer die Feigheit besessen, mich für die ersteren zu entscheiden." Ich weiß nicht, ob es Feigheit ist, sich in eine Geschichte, wie mit Albertine, zu verstricken. Der Schluß liegt nahe, daß der Autor in Marcel, der ja noch nicht zu seinem Thema gefunden hat, genau spürt, daß er so etwas wie ein Schicksal braucht, einen Tritt in den Hintern. Und, statt sich zu diesem Zweck wie andere freiwillig für den 1.Weltkrieg zu melden, läßt er sich auf eine Frau ein, die ihn nicht liebt. Man könnte sich ihr sicher auch entziehen, aber das darf man nicht, wenn man an sich selbst die Abgründe menschlichen Leids studieren will. Zum Glück müssen wir das nicht mehr tun, die Erkenntnisse, die Proust gewonnen hat, liegen für alle Zeiten vor. Man kann sich heute statt dessen anderen Themen widmen und z.B. einfach wieder über Kriege schreiben, statt über Beziehungen.

Unklares Inventar: - Kartenschlägerin.

  • Volubilis.
  • Porzellankitter.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "...so bleibt die Welt des Wachseins doch darin überlegen, daß sie jeden Morgen eine Fortsetzung finden kann, nicht aber allabendlich der Traum."

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