Schmidt liest Proust
Dienstag, 28. November 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 109-130

Noch 1991 bin ich mit einer blutenden Hand in die Apotheke gegangen, statt zum Arzt, so groß war mein Respekt vor diesen Damen im weißen Kittel, die einem zu helfen vorgeben, während sie einen ausnehmen. Ein eigenartiges Zwischenwesen, nicht befugt, einen zu heilen, aber doch bereit, sich stärker mit dem Leid des Kunden zu identifizieren, als andere Händler. Je nach Schwere des Falls werden einem dann ein oder zwei Packungen Gratis-Taschentücher in die Tüte gesteckt.

Gestern habe ich in einem dieser Geschäfte spätabends verräterische Dinge eingekauft, Tape für den beim Fußball verdrehten Knöchel, Acesal, Baldrian-Dispert mit Hopfen, und dann wollte ich Johanniskraut-Kapseln, in der Hoffnung, durch irgendein Zaubermittel irgendetwas zu erreichen. Die junge Apothekerin sah mich mitfühlend an, und wir überlegten gemeinsam, welche Dosierung die richtige wäre, es gab nämlich zahlreiche, von schwach bis äußerst stark. Wie schlimm es denn sei, fragte sie und vermied das böse Wort Depression. "Das ist es gar nicht", sagte ich lächelnd, wie ein Alkoholiker, der noch nicht zu seiner Krankheit steht. Aber wofür dann das Johanniskraut? "Ja, ich weiß auch nicht, eigentlich kam der Tip von meiner Mutter." "Die kleinere Dosierung reicht eigentlich bei normalen Herbstdepressionen." "Die hab ich ja gar nicht, das soll gegen Liebeskummer sein." Sie ließ sich nichts anmerken und nahm eine fast noch diskretere Attitüde an, als sonst, wenn ich Perenterol, Immodium und Tannacomp kaufe.

Eigentlich war mir das Mittel ja viel zu teuer, 35 Euro für 60 Pastillen, und die Wirkung setzt erst nach drei Wochen ein. Die geringere Dosierung war etwas billiger, aber als ich ihr verraten hatte, worunter ich leide, pochte sie mit dem Finger auf die Baldrian-Dispert-Packung, das sei schon das richtige. Mir fiel im übrigen auf, daß es nicht so schlimm um mich bestellt sein kann, wenn ich bei den Heilmitteln noch um den Preis feilsche.

Die nette junge Dame, hat mir dann noch ohne zu fragen ein ausgleichendes "Bagno effervescente aromatico" mit Lavendelgeruch eingesteckt und ein "Gute Nacht Einschlaf-Tuch" mit ätherischen Ölen. "Anwendung: Legen Sie das getränkte Tuch vor dem Schlafengehen auf die Brust oder befestigen sie es am Hemd." Und so lag ich wenig später statt mit einer duftenden Frau mit einem stinkenden Tuch auf der Brust im Bett und wartete auf den auf der Packung versprochenen "erholsamen Schlaf".

Seite 109-130 Eifersucht, wie wenig es dazu braucht: "Eine Frau aber, die uns während einer gewissen Zeit gesagt hat, wir seien alles für sie, ohne daß sie dabei auch alles für uns gewesen wäre, eine Frau, die wir mit Vergnügen sehen, küssen, auf unseren Knien halten, versetzt uns in größtes Erstaunen, wenn wir auch nur an einem plötzlichen Widerstand spüren, daß wir nicht ganz und gar über sie verfügen." Am besten, man ist ganz unsensibel für ihre Regungen, dann hat man auch keinen Ärger, außer, daß sie einen irgendwann aus heiterem Himmel verläßt. Aber bis dahin hatte man ein ruhiges Leben.

"Die Enttäuschung weckt dann manchmal in uns die vergessene Erinnerung an eine frühere Angst, von der wir gleichwohl wissen, daß sie nicht durch diese, sondern durch andere Frauen hervorgerufen worden war, deren treulose Handlungen sich in unserer Vergangenheit aneinanderreihen." Und die jetzige muß dann stellvertretend für alle vorigen büßen. Nicht mehr lange, und wir werden "selber List anwenden und uns hassenswert machen." Bis das ganze Verhältnis vergiftet ist.

Noch einmal wird über das Telephon nachgedacht, und die Frage gestellt, warum die Salonmaler nicht statt Bildern, wie "Am Spinett", Szenen der Art, wie, "Am Telephon", malen [hier sind bestimmt ein paar Kommas zuviel, aber welche?]. Marcel ruft Andrée an und schweigt eine Weile, bis die Telefonistin sagt, daß sie die Verbindung trennen wird, wenn er nichts sagen will. Das waren noch Zeiten, als die Telefonistin mitgedacht hat. Heute könnte man tagelange Anrufe führen, ohne ein Wort zu sagen, der Telefongesellschaft ist das ganz gleich. Es ist doch eigentlich eine Frechheit, daß der Tarif nach Zeittakt berechnet wird und nicht nach dem Wert des Besprochenen. Ein denkbares System wäre, für banale Gespräche, die es in großen Stückzahlen gibt, Rabatt einzuführen, und ein anderes wäre, gerade Gespräche zu subventionieren, die von Interesse für die Allgemeinheit sind. Auf jeden Fall müßte jedes Gespräch von einem hochkompetenten Telefonfräulein mitgehört werden, das darüber entscheidet, was es kostet und ob man es fortsetzen darf.

Und noch etwas Technikgeschichte, die "an mythologische Vorzeiten erinnernde Begegnung mit einem Flieger, bei der mein Pferd gescheut hatte..." aus dem vorigen Band, war nur die Ankündigung eines ganz neuen Wirtschaftszweigs gewesen. Denn inzwischen sind "rings um Paris Flugzeughallen entstanden...", und seltsamerweise wird gerade für solche Menschen, die das Meer lieben, das "Herumbummeln an der Peripherie von Luftlandeplätzen" zu einem heute undenkbaren Freizeitvergnügen.

Aber zurück zum Menschen und seinem Elend. "Ich glaube wirklich, daß ich an diesem Tage soweit war, unsere Trennung zu beschließen und nach Venedig zu reisen." Was ihn aber wieder an sie "kettete", ist die Entdeckung einer kleinen Lüge aus Balbec. Bei Proust wird die Liebe nämlich ausdrücklich aus der Lüge geboren. Der Betrogene, der die Wahrheit wissen will, nimmt eine interessante Verhaltensweise an, denn er dreht sich auf der Türschwelle noch einmal um und stellt ganz beiläufig eine Frage. "...die geistesabwesende Miene und die gleichsam in Klammern und in der letzten Minute hingeworfene Frage" kennt man ja von Inspektor Columbo. Hätten dessen Opfer Proust gelesen, hätten sie sich nicht von ihm überführen lassen.

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