Schmidt liest Proust |
Montag, 27. November 2006
Berlin - V Die Gefangene - Seite 88-109 jochenheißtschonwer, 27.11.06, 19:27
In diesem Jahr verzichte ich auf alle Maßnahmen zur Stärkung meines Immunsystems, die im letzten Jahr so kläglich versagt haben: täglich Echinacea, frischgepreßter Saft von zwei Orangen am Morgen (mit einer Messerspitze Vitamin-C-Pulver), dreimal die Woche Joggen, viel Obst und Gemüse, Wechselduschen, einmal die Woche Sauna, Schlafen mit den Füßen zur Wand, weil dort immer ein leichter Luftzug von oben zu herrschen schien. Obwohl ich das alles in diesem Jahr vernachlässige, bin ich so wenig krank wie lange nicht. Gestern war ich aber aus seelischen Gründen nach einem halben Jahr wieder einmal in der Sauna und habe dort Proust gelesen, was eine ideale Sauna-Lektüre ist, die es einem erspart, ständig in der Auto-Bild blättern zu müssen, um sich von den Sexstellen abzulenken, wie bei Houellebecqs "Plattform". Das künstliche Vogelgezwitscher im Saunaraum, die nun schon im dritten Jahr gleiche "O, Champs-Elysées..."-CD im Ruhebereich, die alten Bunte-Ausgaben im Zeitungsständer, die schlechten Witze beim Aufguß, die Salzstangen, all das hatte mir doch gefehlt. Bei den kalten Wassergüssen aus dem Eimer an der Decke fiel mir ein, daß das ja früher eine beliebte Behandlungsmethode gegen schwere psychische Erkrankungen war, und ich hätte gerne mit Eis und Elektroschocks alle Emotionen aus mir rausgefräst. Zumindest hat mich die Sache müde gemacht, Schlafen zu können, ist ja ein Segen, aber den folgenden Vormittag mußte ich dann doch wieder mit E-Mail-Schreiben verbringen, weil ich mich wegen einer Frau nicht auf mein an sich beneidenswertes Dasein konzentrieren konnte. Dabei ist mir aufgefallen, daß ich manchen Bekannten nur schreibe, wenn ich in ein aussichtsloses Mann-Frau-Schlamassel geraten bin, also inzwischen ungefähr alle 1-2 Jahre. Monate später werde ich diese Mails, wie auch diesen Eintrag hier, mit Unverständnis betrachten. Es ist alles Biochemie, und es hört, wie mir meine Mutter versichert hat, mit 40 langsam auf (andere Koryphäen aus meinem Sozialleben behaupten allerdings das Gegenteil). Aber wozu schleppt man sich immer weiter durch dieses Leben? Zu Markus Wolfs Begräbnis sind 1500 Menschen gekommen, wieviel würden es bei mir sein? Und werden es mehr, wenn ich noch etwas durchhalte, oder kann man den Moment zum Absprung auch verpassen? Vielleicht sollte man, wie beim Blog, Subscriber für sein Begräbnis sammeln, damit man weiß, wann es sich nicht mehr zu warten lohnt, weil es nicht mehr mehr werden? Seite 88-109 Proust gibt sich wirklich Mühe, Albertine nicht als verkappten Mann dastehen zu lassen: "Ihre beiden kleinen, hochsitzenden Brüste waren so rund, daß sie weniger einen integrierenden Teil ihres Körpers zu bilden als vielmehr wie zwei Früchte daran gereift zu sein schienen; und ihr Leib, bei dem die Stelle verborgen war, an der er beim Manne häßlich wird, als sei ein Haken steckengeblieben in einer Statue, von der man den Mantel abgeschlagen hat, fügte sich da, wo die Schenkel zusammentreffen, mit..." Vielleicht muß man gar nicht weiter zitieren, es wäre ja auch gemein, den Lesern immer die Spannung zu nehmen. Ein Beispiel, welcher Gehirnwäsche ich mich hier unterziehe, und daß es kein Wunder ist, wenn man dann immer das falsche macht: "...dadurch weist das Leben der Liebe die größten Kontraste auf, es ist dasjenige, bei dem ein unvorhersehbarer Pech- und Schwefelregen nach den strahlendsten Augenblicken niedergeht und bei dem wir, ohne Mut und Kraft, aus dem Unglück eine Lehre zu ziehen, unmittelbar an den Wänden des Kraters, aus dem die Katastrophe kommen kann, von neuem zu bauen beginnen." Es ist jetzt immer öfter von seiner Arbeit die Rede, an die er sich nicht begibt. Sogar der Begriff "Prokrastinieren" fällt. Aber kein Tag scheint der richtige, um anzufangen. Nicht einmal: "Der Morgen zum Beispiel, an dem er sich zu einem Duell begibt...", der zwar die plötzliche Einsicht in den Preis des Lebens bewirkt, und den Vorsatz, in Zukunft jede Minute zu nutzen, aber, unverletzt vom Duell heimgekehrt, findet der Duellant die gleichen Hindernisse wieder. Außerdem wird man sich gerade am Abend nach einem glücklich überstandenen Duell am ehesten mit gutem Gewissen Urlaub erteilen. Statt zu arbeiten, liegt er im Bett: "An diesem strahlenden Sonnentag von morgens bis abends mit geschlossenen Augen liegenzubleiben war eine ebenso erlaubte, gebräuchliche, heilsame, angenehme, der Jahreszeit entsprechende Sache, wie die Fensterläden gegen die Hitze geschlossen zu halten." In dieser Zeit schifft er "träge von Tag zu Tag" und läßt sich von Erinnerungen überraschen, die aus dem Gedächtnis auftauchen. Eine kleine Liste von Wünschen, die er in seinem Innern immer noch aufbewahrt hat:
Aber die nagende Eifersucht: "Daher hat man auch in der Liebe nicht wie im gewöhnlichen Leben nur die Zukunft zu fürchten, sondern sogar die Vergangenheit, die oft erst nach der Zukunft Gestalt annimmt, und wir denken dabei nicht nur an eine Vergangenheit, von der wir erst nachträglich etwas erfahren, sondern an diejenige, die wir schon lange in uns getragen haben, in der wir aber mit einem Male erst zu lesen lernen." Ja, die gemeinsame Vergangenheit plötzlich zu verstehen, ist eine quälende Angelegenheit. Erst recht, wenn man die Tendenz hat, alles immer gegen sich auszulegen. Dann braucht man nicht einmal nur zu beobachten, daß sie jemand anderem Blicke zuwirft, es reicht schon, zu beobachten, daß sie es nicht tut. Denn daraus schließt man, wie angestrengt sie sich zu verbergen bemüht, was in ihr vorgeht. Und das alles spielt sich in einem ab, und man weiß eigentlich auch, daß die Ursache für das Leid nicht außerhalb von einem liegen muß, sondern "daß unsere Liebe vielleicht unsere Traurigkeit selber und daß ihr Gegenstand nur zu einem schwachen Teil das schwarzgelockte junge Mädchen ist." Aber was hilfts, das zu wissen? Selbständig lebensfähige Sentenz: - "O große Gebärden des Mannes und der Frau..."
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