Schmidt liest Proust
Sonntag, 26. November 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 67-88

Uch sehe eine Doku über den Fall von Vukovar und muß die ganze Zeit nur denken, wie schrecklich es wäre, wenn Krieg wäre, und man hätte außerdem noch Liebeskummer. Wie ein Gift wirkt die tägliche Dosis Proust im Moment, dieses mit phantasmatischer Monotonie vorgetragene Psychodrama um Eifersucht. Wenn man noch an so etwas wie die Möglichkeit von Glück zwischen zwei Menschen geglaubt hat, muß man vor Prousts Beweisen dafür, daß hinter allem immer Elend und Verrat lauern, die Waffen strecken. Gibt es eine Welt, in der Proust nicht Recht behält? Ist irgendein Leser hier, der mit seinem Partner glücklich ist und bestätigen kann, daß es so etwas wie reziproke Gefühle gibt?

Seite 67-88 Wir freuen uns immer noch gemeinsam mit Albertine und Marcel über ihre neuen, goldenen Hausschuhe und die hübschen Morgenröcke. Je ärmer man sei, umso eher könne man sich ja auch noch freuen, weil "die Armut, großherziger als der Überfluß, den Frauen viel mehr schenkt" nämlich das Verlangen nach Toiletten, die man gar nicht beachten würde, wenn man sie besäße.

Endlich sagt sie auch die Worte, die jeder Mann gerne hört: "Ich bin ganz entsetzt bei dem Gedanken, wie dumm ich ohne dich geblieben wäre."

Solange man liebt, kann man sich kein richtiges Bild von der Geliebten machen: "Immer wieder gleicht ein junges Mädchen so wenig dem, was sie das letzte Mal war [..] Ein unverrückbares Bild von ihr wird aus unserer Gleichgültigkeit geboren, die sie der Beurteilung durch den Verstand anheimgibt." Im Gedächtnis sind die verschiedensten Bilder aufbewahrt, die dem Wesen, das man kennt ziemlich unähnlich sind: "...man begreift dann, welche Modellierarbeit täglich die Gewohnheit vollzieht." Die verschiedenen Albertines von Balbec I und Balbec II. Wenn ich denke, daß ich sechsmal in Bulgarien war und meine Freundin bei jedem Aufenthalt jemand anderes war, dann müßte ich, wenn ich das wie Proust protokollieren wollte, mit ein paar Jahren Arbeit rechnen.

Man weiß nie, ob so ein Satz noch Schlüsselfunktion haben wird, im Moment scheint er mir das Buch nur unnötig aufzublähen: "An den Abenden, an denen Albertine mir nicht vorlas, musizierte sie oder fing mit mir eine Partie Dame oder ein Gespräch an, die ich alle beide unterbrach, um sie zu herzen und zu küssen."

Ein schöner Titel für ein Buch wäre folgender Satz: "...das schläfrige Anschlagen der Brandung an den Strand in Vollmondnächten."

Eine Möglichkeit, das Bedürfnis nach ihr und nach der "Macht zu träumen, die ich nur in ihrer Abwesenheit besaß" zu versöhnen, ist, sie in ihrem Schlaf zu beobachten. Dann ruht ihr Blick nicht länger auf ihm, und "ich hatte nicht mehr nötig, an meiner eigenen Oberfläche zu leben." Dann schmiegt er sich manchmal an sie und ihr Atem hebt ihn leicht empor, "...ich hatte mich auf dem Schlummer Albertines eingeschifft." Aber nicht nur das, manchmal läßt er sein "Bein an dem ihren entlanggleiten wie ein Ruder, das man schleppen läßt und dem man von Zeit zu Zeit eine leise Schwingung mitteilt..."

Und endlich geschieht es zum ersten Mal in diesem Buch, daß offiziell der Name "Marcel" fällt, allerdings eigenartig verklausuliert: "...sie sagte 'Mein' oder 'mein lieber', jeweils gefolgt von meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler denselben Vornamen verliehe, den der Verfasser dieses Buches trägt, ergeben hätte: 'Mein Marcel'."

Unklares Inventar: - Ein Mantel aus Zibeline, ein Morgenrock von Doucet.

  • Die siamesischen Schwestern Rosita und Doodica.

Verlorene Praxis: - Sich aus einer Schar erblühter junger Mädchen mit nicht geringer Genugtuung die schönste Rose pflücken und den anderen fortnehmen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Was unsere Gefühle anbelangt – wir haben nun schon zu oft davon gesprochen, um uns noch einmal wiederholen zu dürfen..."

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