Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 16. November 2006
Berlin, Warschauer Straße, Firstbase Internetcafé, IV Sodom und Gomorra - Seite 582-603 jochenheißtschonwer, 16.11.06, 19:21
Ich kann mich nicht damit abfinden, dass, während ich hier im Internetcafé arbeite, ständig ein elektronisches Zyklopenauge auf mich gerichtet ist, auch wenn „Genius“ draufsteht. Obwohl es natürlich schwer fallen dürfte, nur aus meinem Gesichtsausdruck auf den Text zu schließen, den ich gerade tippe, das wäre vielleicht auch wieder etwas für „Wetten dass“. Andere Produktnamen in meinem Gesichtsfeld: ein Bildschirm namens „Captiva“, „Die Gefangene“. Da horcht man natürlich als Proust-Leser auf, es sind ja nur noch 60 Seiten bis dahin. Welcher Zufall war hier am Werk, daß ich ausgerechnet an „Die Gefangene“, von „Genius“ beobachtet meinen Proust-Beitrag schreibe? Neulich war schon eine ähnliche Koinzidenz aufgetreten, als ich, von Eifersucht getrieben, wieder einmal nachts um drei Klingelschilder nach einem bestimmten Namen absuchte, und sofort ausgerechnet auf „Montesqiou“ stieß. Das ist ein bisschen, wie in „The Game“, irgendwann kommt die Auflösung, und wir werden alle aufatmen. Man wartet ja in seinem Leben sowieso ständig darauf, dass sich endlich der Moderator zu erkennen gibt, und es heißt „Verstehen sie Spaß?“ Die Botschaft des dritten Produkts, das mir heute etwas sagen will, habe ich noch nicht entschlüsselt, ein orangefarbener Kugelschreiber, auf dem „acora – Hotel und Wohnen“ steht. Auf der Homepage heißt es: „Cor kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚Herz’, Cordial aus dem Französischen und heißt ‚herzlich, freundlich’. Von diesen Gedanken haben wir uns im Jahr 1993 leiten lassen, einen Firmennamen für unsere Hotelgruppe zu definieren. Gastfreundschaft von Herzen – das ist acora.“ Aber warum nicht einfach „aherza“? Wenn unsere Vorfahren auch so unbefangen mit den Wortbildungsregeln umgegangen wären, müssten sich Deutschlernende heute ganz schön strecken. „Diese Definition ist nicht nur Platzhalter auf unserer Homepage und in unseren Prospekten, sondern wir bemühen uns täglich, diese Philosophie im Umgang mit unseren Gästen und Mitarbeitern umzusetzen.“ Wenn „Gastfreundschaft von Herzen“ eine Philosophie ist, dann nenne ich mich in Zukunft auch Philosoph. Sollte der Kugelschreiber darauf hinauswollen? „Der Gast soll sich in jedem acora Hotel und Wohnen einfach wohl fühlen – wie zu Hause.“ Hier steckt ein fataler Denkfehler, "wohl fühlen" und "zu Hause"? Und selbst, wenn, warum sollte ich Geld dafür bezahlen, mich in einem Hotel wie zu Hause zu fühlen? Vielleicht richtet sich mein Kugelschreiber aber auch gar nicht an ein spezielles Literaturpublikum, sondern eher an die breite Leserschaft. Dann ist die Botschaft womöglich ganz schlicht gemeint: Wenn du irgendwann einmal in Bochum, Bonn, Düsseldorf oder Karlsruhe bist und ein Hotel suchst, das „acora“ heißt, dann hol deinen Kugelschreiber hervor, auf dem die Internetadresse von acora steht, sie lautet www.acora.de. Auf dieser Adresse findest du dann auch die richtige Adresse. Bitte schreib nicht so viel, damit der Stift lange hält, und du nicht irgendwann in Bochum, Bonn, Düsseldorf oder Karlsruhe auf der Straße übernachten mußt. Seite 582-603 Der Hinweis an den Leser, er wolle demnächst engültig mit Albertine brechen, häuft sich und wird dadurch nicht glaubwürdiger. Denn zugleich findet er "eine gewisse Süße darin [..] ganz, als ob sie meine Frau gewesen wäre, in sanftem Ton zu befehlen: 'Geh du nur nach Hause, ich komme heute abend wieder zu dir'." Anscheinend kann selbst die Eheroutine als Vorlage für ein erregendes Rollenspiel herhalten. "Mit der sentimentalen Erfindungsgabe, in der unglückliche Liebe sich gefällt", phantasiert Charlus ein anstehendes Duell herbei, in das er ziehen wolle, um Morels Ehre bei einem Offizier zu verteidigen. Das alles, um Morel, den so ein Duell kompromittieren muß, dazu zu bewegen, zu ihm zu kommen. Morel spricht von ihm in seiner Abwesenheit als "altem Widerling", aber da er durch dieses Duell in eine peinliche Situation geraten würde, eilt er zu Charlus, um ihn zu beschwichtigen. Wäre Morel nicht gekommen, hätte Charlus sich vielleicht tatsächlich mit irgendwem duelliert, "um seine Trauer wenigstens in Wut auszuleben." Wie kann er so an einem Sproß des Pöbels hängen, er, dessen Blut "reiner als das des Hauses Frankreich war"? Nie wird er sich an die Gepflogenheiten des Pöbels gewöhnen, z.B. "die tiefeingewurzelte Gewohnheit dieser Leute, auf einen Brief nicht zu antworten..." Weil er ereichen konnte, daß Morel ihn anfleht, wird er "von einem Taumel des Entzückens erfaßt." Zum Schein gibt er nicht sofort nach und schwärmt vom bevorstehenden blutigen Ereignis, das ihn in die Tradition seiner kriegerischen Vorväter stellen wird. Marcel soll gleich Elstir telegraphieren, damit dieser das Ganze im Bild festhält. Ein "Beispiel solchen Wiederauflebens alter völkischer Kräfte [..] Es gibt dergleichen in jedem Jahrhundert vielleicht nur ein einziges Mal." Andere Auseinandersetzungen werden auf diese Versöhnungfolgen. Einmal verbringt Morel mit dem Prinzen von Guermantes eine Nacht im Luxusbordel von Maineville, erfreut über "den üppigen Genuß, von Frauen umgeben zu sein, deren braune Brüste sich ihm unverhüllt zeigten." Charlus läßt Jupien kommen, der für ihn die Bordellchefin besticht, damit sie sie beide einläßt, und sie von einem Versteck aus Morel beobachten können. Unklares Inventar: - Aufwärterin.
Verlorene Praxis: - Jemandes Hand einen Augenblick lang mit der Güte eines Herrn streicheln, "der sein Pferd am Maule krault und ihm Zucker gibt." Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Während er Blatt um Blatt mit seiner Schrift bedeckte, funkelten seine Augen in entrückter Raserei."
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