Schmidt liest Proust
Dienstag, 14. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 540-561

Ende der Woche beginnt das achte Balkan-Blackbox-Festival, und ich soll für die Taz darüber schreiben, was früher ein Traum gewesen wäre. Vor zwei Jahren habe ich mich viele Monate fast ausschließlich mit Jugoslawien und den Jugoslawien-Kriegen beschäftigt und versucht, grob gesagt, alles zu diesem Land zu erfahren. Ähnliche Perioden gab es mit Bulgarien und Rumänien. Mit einem Festival zu tun zu haben, das die ganze Region abdeckt, sollte mich glücklich machen, alleine schon die Gelegenheit, endlich einmal Gleichgesinnte kennenzulernen. Ich habe damals sogar einmal vor dem Kino Babylon ganz nahe neben den Machern gestanden, mich aber nicht getraut, sie anzusprechen.

Jetzt habe ich einen Stapel kopierter DVD's mit Filmen und Dokus aus Bosnien, Serbien und Bulgarien bekommen, die auf dem Festival laufen werden, und die ich für den Artikel durchsehen will. Vor zwei Jahren habe ich ganze Tage in der Uni-Mediothek vor einem kleinen Fernseher gesessen, mir Dokus zu den Balkankriegen und alte jugoslawische Spielfilme angesehen und Notizen gemacht. Jetzt bekomme ich sie mit der Post geliefert und müßte sie nur einlegen, aber alles in mir sträubt sich dagegen anzufangen. Es war immer so: sobald eine Arbeit nicht mehr freiwillig war, weil man sich zu etwas verpflichtet hatte, begann man es aufzuschieben. Das ist völlig irrational, weil ich mich auf diese Filme freue, man wird ja schnell süchtig nach starken Schicksalen, wenn man sich mit einer Region befaßt, in der fast jedes Leben ein Drama ist. Und auch wenn der serbische Spielfilm schwach sein sollte, spielt er doch genau zu der Jahreszeit in Belgrad, zu der ich auch dort war, und man sieht dieses eigenartige Genex-Hochhaus in Neu-Belgrad im Winternebel stehen. Und dann gibt es eine autobiographische Doku eines Filmemachers aus Sarajevo, in der er über seine Kindheit und Jugend unter Tito nachdenkt und man nebenbei Sarajevo im Sommer sieht. Es gibt auch einen Film über die Macher des Bruce-Lee-Denkmals in Mostar und über ein interaktives Computerspiel "Balkan wars", bei dem der Krieg noch einmal nachgespielt wird.

Ich müßte nur anfangen, es gibt nichts, was leichter sein könnte, als sich Filme anzusehen und ein bißchen mitzuschreiben. Aber ich könnte vorher auch nochmal meine Mail checken und gucken, ob es endlich ein Blog-Eintrag vom November in die Top 25 geschafft hat. Und das werde ich jetzt auch tun, und mit den Filmen morgen beginnen. Wird das bis ans Lebensende so weitergehen, immer nur Selbstüberwindung, Ungenügen und schlechtes Gewissen?

Seite 540-561 Immer öfter taucht bei Marcel der Wunsch auf, sich an die Arbeit zu machen, wobei nicht gesagt wird, was er unter Arbeit versteht. Aber man geht vielleicht nicht zu weit, wenn man vermutet, daß das Ergebnis dieser Arbeit am Ende das Buch sein soll, das wir in der Hand halten.

Dann wieder so eine nebenher eingestreute überraschende Aufdeckung, die uns als unsensible Leser dastehen läßt, weil wir es uns nicht selbst gedacht haben. Denn als er sich im Hotel in den Smoking wirft, pfeift er unbewußt eine Melodie und ist "glücklich über die Vielfalt, die ich in dieser Weise auf drei Ebenen meines Lebens feststellen konnte...", denn dieselbe Melodie hatte er auch schon früher auf dem Weg zu den Besäufnissen in Rivebelle gepfiffen, dann an dem Abend, an dem er Mademoiselle de Stermaria auf der Insel im Bois zu verführen gedachte, und eben auch "ein paar Tage, nachdem ich sie [Albertine] zum ersten Mal besessen hatte."

Auf dem Weg aus dem Hotel macht einer der Gäste eine Bemerkung zu ihm, die jene Befriedigung erkennen läßt, "welche die – wäre es auch durch die dümmste Tätigkeit – beschäftigten Leute daraus ziehen, daß sie 'keine Zeit' haben, Dinge zu tun, die andere unternehmen." Meistens sind es gerade die Beschäftigungen dieser Leute, die einem selbst viel Zeit rauben, und die ganze Welt würde Zeit gewinnen, wenn sich alle mehr Zeit dafür nehmen würden weniger zu tun.

Weil er immer in Eifersucht entbrannt ist, wenn Albertine nach ihrer Ankunft bei den Verdurins die Treppe hochging, um nach der anstrengenen Anfahrt "Toilette zu machen", hat er ihr ein Necessaire von Cartier geschenkt, denn damit ist gewährleistet, daß sie sich in Zukunft auch in seiner Gegenwart pudern kann. Als nächstes wird sie eine Brotbüchse um den Hals gehängt bekommen, damit sie nicht mehr zum Essen verschwinden muß, eine Thermoskanne und schließlich Windeln, um auch diese Abwesenheit auszumerzen. Dann muß man ihr nur noch Aufputschmittel ins Essen mischen, damit sie sich nicht mehr in den Schlaf verabschiedet. Wobei man die Mittel dann natürlich auch selber nehmen muß, damit man nichts verpaßt.

Wenig später heißt es aber: "...ich, der ich keine Eifersucht und kaum noch Liebe für sie empfand..." Und wieder etwas später: "Aber da ich ganz an das tägliche Bedürfnis, Albertine zu sehen, versklavt war..."

Charlus, der sich die Lippen rot pomadisiert, denkt einerseits immer noch, keiner wisse über seine Orientierung Bescheid, vermutet aber auch andererseits von jedem genau das. Außerdem hat er das Problem aller, die schlecht über andere reden, denn er schließt: "...sobald jemand ihm gegenüber in Gedanken versunken schien, daß man dieser Person irgendeine Bemerkung zugetragen habe, die er selbst über sie gemacht habe. [..] Andererseits verbarg Herzlichkeit ihm leicht üble Nachrede, von der nichts zu ihm drang." Da aber in Wirklichkeit alle über seien Neigung zu Männern Bescheid wissen, wirkt er auf die Gesellschaft wie ein exotischer Würzstoff, alle suchen seine Nähe "wegen der einzigartigen, geheimnisvollen, raffinierten und monströsen Erfahrung, aus der er schöpfte..."

Unklares Inventar: - Hydrophobie.

  • Bajaderenwimpern.

Verlorene Praxis: - Sich, weil man sich verspätet hat, in einen Zustand von Trauer und Melancholie versetzen.

  • Ängstlich darauf bedacht sein, daß nichts Abträgliches über einen in der Flöten- und Kontrapunktklasse verlautet.
  • Sich als Dame, um die Unterhaltung nicht einzuengen, in einer gewissen Entfernung halten.

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