Schmidt liest Proust
Montag, 13. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 519-540

Weil wir die Eltern zum ersten Mal überreden konnten, zu Weihnachten nach Berlin zu kommen, hat meine Mutter jetzt schon seit drei Tagen Migräne, es seien nämlich nur noch vier Wochen bis Weihnachten, und sie müsse noch so viel einpacken. "Es sind sechs Wochen." "Für mich sind es vier." Ihr Gepäck soll ja vom Gepäckdienst der Bahn abgeholt werden, aber das Ticket gelte doch erst ab dem 23.12., ob die das Gepäck dann auch einen Tag vorher holen würden? Am selben Tag, das wäre viel zu aufregend. "Ruf doch mal an, ob sie das machen." "Wir haben aber keine Zeit! Papa fährt im Januar 10 Tage nach Japan." "Es reicht doch, daß du dir die Sorgen erst zwei Tage vorher machst." "Ich hatte das ganze Wochenende Migräne." "Soll ich mal anrufen?" "Papa will ja auch nur Handgepäck, damit wir nichts aufgeben müssen." "Also hast du Migräne wegen einer Frage, die man mit einem Anruf klären könnte, und die überhaupt nicht relevant ist für euch?" "Ihr vergeßt immer, daß wir 72 sind." Sie müsse noch so viel einpacken, die ganzen Medikamente. "Die kannst du doch auch hier kaufen, wenn du welche brauchst." "Die gibt es doch in Berlin nicht." "Aber das ist die Hauptstadt." Im Januar fängt sie eine chinesische Kräuterbehandlung gegen ihre Migräne an, 60 Euro die Sitzung. Akupunktur helfe nur ein Jahr. Bei Migränepatienten wolle "das Gehirn sich Luft verschaffen". Am Wochenende hat sie nämlich schon wieder so viele Geschichten von anderen Leuten anhören müssen, die schwirren ihr dann immer alle im Kopf rum, wenn sie die Augen schließt. Es sei so unbequem nach Berlin zu kommen, weil sie hier für alles verantwortlich seien. "Aber bei euch doch auch." "Aber das ist was anderes. Außerdem die Treppen." "Aber es gibt einen Fahrstuhl." "Und wenn der kaputt geht?" "Aber ihr seid doch gar nicht verantwortlich hier." "Und dann ist nichts zu essen da." "Dann ist eben nichts da." "Wir schenken sowieso nicht viel, nur eine Kleinigkeit für die Enkel." "Ich will aber nicht, daß die Enkel alles kriegen." "Und ihr habt doch keinen Baumschmuck, ach, ich konnte schon wieder ab vier nicht schlafen."

Seite 519-540 Marcel und Albertine sehen sich Kirchen an, ganz nebenbei wird die Information eingestreut, daß wir uns im zwanzigsten Jahrhundert befinden, gut zu wissen. Das "lässige Behagen", das Albertine ihr neuer Seidenschal offensichtlich verschaffe, findet er nicht ohne Anmut. In der Architektur entwickele sie erstaunlich schnell einen Geschmack, "im Gegensatz zu dem jammervollen, den sie in der Musik besaß." Wie sich die Zeiten gleichen, der Mann klagt über den Musikgeschmack seiner Frau. Viel zu selten sucht man sich ja seine Partnerinnen nach ihrem Gebäudegeschmack aus.

An einem Bauernwirtshaus wird gehalten, der Cidre aber im davor geparkten Auto getrunken (wenn mit "Zider" Cidre gemeint ist). Der Cidre spritzt sie voll, "die Flaschen brachten wir zurück". Muß man in einem Roman erwähnen, daß man die Flaschen zurückgebracht hat? "Es war Winter, das Land war im Aufruhr, bald würde es Krieg geben, gleich morgens brachte ich die Flaschen zurück..." Der Alkohol bewirkt, daß Albertine sich an ihn drängt, blaß, "rot nur an den Jochbeinen unter den Augen, mit etwas Glühendem und Verwelktem dabei, wie es die Mädchen aus den Vorstädten haben." Was ist das heutige Pendant zu diesen "Mädchen aus den Vorstädten"?

Der arme Marcel: "Ich konnte Eifersucht sogar verspüren, wenn ich mich neben ihr befand..." Ein Kellner mit schwarzem Haar "das wie eine Flamme emporzüngelte" läuft mal nah, mal fern durch ihr Blickfeld. "Die beiden sahen aus, als befänden sie sich in einem geheimnisvollen Zwiegespräch, das gleichwohl stumm verlief infolge meiner Anwesenheit und vielleicht bereits eine Fortsetzung früherer Begegnungen war, von denen ich nichts wußte, oder auch nur eines Blickes, den er ihr zugeworfen hatte, bei dem ich aber jedenfalls der störende Dritte war, vor dem man sich verbirgt." Wieder denkt er, ob der Augenblick nicht gut gewählt wäre, um endgültig auf sie zu verzichten, aber er denkt es nur, er tut es nicht.

Seine Mutter würde ihn ja gerne zur Arbeit auffordern, aber allein die Ermahnung dazu versetzt ihn schon in solche Aufregung, daß es ihn am Anfangen hindert, zu dem es aber auch nicht käme, wenn sie schwiege. Keine leichte Ausgangssituation für einen Pädagogen.

Kehrt er am frühen Morgen von Albertine zurück, ist er "...noch immer ganz umwebt von der Gegenwart meiner Freundin, und mit einem Vorrat an Küssen bedacht, von dem ich noch lange hätte zehren können." Zu Hause findet er sogar noch ein Telegramm von ihr vor, das sie von unterwegs geschrieben hat (Telegramm klingt auch besser als SMS), und er sagt sich, daß sie sich doch wohl lieben müssen, wenn sie die ganze Nacht mit Küssen zubringen. Aber weiß man's?

Wenn da nicht ihr Antlitz wäre, das "das Rätsel ihrer Absichten barg", all ihre Pläne, von denen er ausgeschlossen ist. "Ohne ein Datum dafür festzulegen, wünschte ich, daß dies Leben ein Ende hätte." Wenn man kein Datum setzt, kann man natürlich getrost davon ausgehen, daß sich dieser Wunsch noch erfüllen wird.

Aus einem Fluchtbedürfnis reitet er einen Wildpfad. Die Felsen erinnern ihn an Elstirs Aquarelle: "Dichter einer Muse begegnend" (was schon hinreißend genug wäre als Bildtitel) und "Junger Mann einem Zentauren begegnend" (was zugegebenermaßen sogar noch etwas neugieriger macht). "Plötzlich scheute mein Pferd." Er hebt seine, warum auch immer "tränenerfüllten Blicke" zur Sonne und sieht ein Flugzeug. "Ich war tiefbewegt, wie es ein Grieche gewesen sein mag, der zum ersten Mal einen Halbgott erblickte. Ich weinte, denn ich war schon in dem Augenblick, als ich das Geräusch über meinem Kopf wahrnahm – Aeroplane waren noch selten in jenen Tagen -, bei dem großen Gedanken zum Weinen bereit, daß das Wesen, das ich zum ersten Mal sehen würde, ein Aeroplan sein müsse." So, wie ich geweint habe, als ich zum ersten mal eine externe Festplatte gesehen habe. Technische Neuerungen sollten grundsätzlich mit Tränen begrüßt werden.

Er beneidet den Piloten, weil vor ihm "alle Straßen des Weltenraumes, des Lebens offenlagen..." Minutenlang kreist der Pilot wie unentschlossen über ihm und steigt dann senkrecht zum Himmel empor.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Doch jedesmal, wenn sie sich seit dem Tode meiner Großmutter so weit vergaß, daß sie lachte, stockte dies Lachen, gleich nachdem es eingesetzt hatte, und endete in einem fast schluchzenden Ausdruck der Qual..."

Verlorene Praxis: - Sich beruhigende Kompressen aufs Herz legen.

  • Um ihrer Vorliebe für den Reitsport zu genügen, sich mit Mietpferden behelfen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Die Chauffeure in jenen ersten Zeiten des Automobils waren Leute, die schlafen gingen, zu welcher Stunde es sich eben ergab."

  • "'Mir scheint, du könntest auch jemand Besseren zum Freund haben als einen Automechaniker.'"

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