Schmidt liest Proust
Samstag, 11. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 498-519

Wecken, Joghurtmüsli mit Sojamilch, Kaffee, Cicero "Cato maior de senectute" die ersten 5 Absätze. (So langsam, wie das geht, werde ich noch bis zu meiner senectus dafür brauchen.) Schnell zur Uni, wo 4 Stunden Latein rascher vorübergehen, als in der Schule 45 Minuten Chemie. Warum konnten sie nicht schon an der Schule versuchen, den Unterricht so zu gestalten, daß man Spaß daran hatte? Ich habe 12 Jahre Lebenszeit damit verschwendet, mich zu drücken. Immer mußte man im Unterricht heimlich die Hausaufgaben für die nächste Stunde machen. Ich war meine gesamte Schulzeit genau eine Stunde hinterher.

"Hoc enim onere te levari volo", Ablativus separationis und ACI erkannt, Endorphine ausgeschüttet. Bei Dussmann nun doch Jason Lutes "Berlin" gekauft, Huysmans "Ganz unten", und einen "Texte und Übungen"-Band Latein, sicher besser als die Lehrbücher aus der Nazizeit, die ich bisher immer benutzt habe. Einer dieser seltenen Momente, in denen man glaubt, daß man vollkommen glücklich sein könnte, mit nichts als Lektüren und Sprachstudien. Auf dem Fahrrad im Nieselregen nach Hause. Während ich den Rest von diesem griechischen Fertigteller von Extra esse, Proust übertragen, aber man kann nicht essen und tippen gleichzeitig. Schokolade ist da praktischer, wie Luhmann meinte, denn dabei könne man umblättern.

Bundesliga in der "Hütte", Kartoffelsalat, Boulette, Kaffee "weiß". In der Pause die Berliner Zeitung durchjagen (wieder dieser katalanische Koch, der Gemüse geliert und Kaviar in ungekochte Eier spritzt. Sein Restaurant bekommt jährlich 2 Millionen Anmeldungen für 8000 Plätze.) Daß 11.11. ist, merkt man an den langen Nasen, die sich die Gäste aufgesetzt haben. Als ich zur Tür rausgehe, sehe ich einen Opa, der sich sehr langsam der Kneipe nähert. Wollen wir hoffen, daß er nicht schon Mittags losgegangen ist und eigentlich vorhatte, es zur Übertragung zu schaffen.

Einkaufen, was braucht man für eine Kartoffelsuppe? Wieviel von den Osborne-Untersetzern, die an den Weinflaschen hängen, werde ich noch sammeln? Kurze Neidattacke, weil im TIP eine Kollegin, die "schon zweimal zu Lesungen dorthin eingeladen war", über Bukarest schreiben darf. Zu schreiben, daß Rumänisch den anderen romanischen Sprachen ähnele, wäre mir sicher zu blöd gewesen. Rumänisch sei sogar Latein am ähnlichsten, naja... Der Trick ist, seinem Wissen nicht zu mißtrauen, dann bringt man es auch zu etwas in der Welt, zumindest wirkt man überzeugend. Sicher arbeitet sie längst an einem Rumänien-Roman, während meiner dieses Jahr abgelehnt wurde.

Beim Kassenroulette ein seltener Volltreffer, denn meine wird hinter mir zugemacht, ich muß mich also mit dem Einpacken nicht so beeilen, was immer der größte Streß ist. Die Verkäuferin mit der tiefen Stimme ist wohl doch eine Frau, ich werde das aber weiter beobachten. Meinen Bonus-Zettel wieder einzulösen vergessen. Zu Hause Texte für das Kantinenlesen raussuchen, sie zu redigieren schaffe ich schon wieder nicht. Schnell den Proust-Beitrag durchgehen und das hier schreiben, keine Zeit zum Mittagsschlaf. Ins Netz damit und los zum Kantinenlesen.

Seite 498-519 Das Auto, dieser "Riese in Siebenmeilenstiefeln", erlaubt es einem, mehrere Ausflugsziele an einem Tag schaffen: "Es wurde uns klar, als der Wagen in einem Ruck zwanzig Schritte eines ausgezeichneten Pferdes zurücklegte." Wenn Orte, die früher jeder für sich bestanden in dieser Weise zusammenrücken, was bedeutet dann noch Entfernung? Die verschiedensten Orte gruppieren ihre Türme "rings um unseren Nachmittagstee." Und was ist dann eine Stadt? Von Buch nach Zehlendorf braucht man mit der S-Bahn länger als von Brest nach Quimper oder Morlaix. Die Felder dazwischen sind dann so etwas wie ein Park.

Die Verdurins zwingen ihre Gäste nach Likören und Zigaretten zu Ausflügen, "ungeachtet der durch Hitze und Verdauungstätigkeit erzeugten Schläfrigkeit". An allen Aussichtspunkten steht eine Bank, bis hin zur letzten Bank "von der aus man die ganze Rundsicht über das Meer beherrschte", und wo der meiste Müll herumliegt und man aufpassen muß, daß man nicht in die Haufen und Klopapierreste der anderen Touristen tritt.

Das Land stellt einen veränderten Rahmen dar, in dem flüchtige Bekannte, denen man in Paris ausweichen würde, plötzlich unterhaltsam erscheinen und schäbige Jagdwagen das Herz derer, die in Paris edle Gespanne fahren, höher schlagen lassen. Alles, was "die Öde solcher allzu isolierten Daseinsformen unterbricht, in denen sogar die Stunde, wenn der Briefträger kommt, zu einer Annehmlichkeit wird." Umgekehrt muß man befürchten, daß einem eine Madame Bovary, wenn man ihr außerhalb eines Romans begegnen würde, vielleicht "wie alle übrigen auch" erschiene.

Für Schiffahrt und Eisenbahn bedarf es des Bahnhofs "jener großen Wohnung, welche niemand bewohnt und die von der Stadt nur den Namen hat..." Mit dem Automobil kommt jeder an, wo er will. "Aber die Kompensation für ein so geheimnisloses Eindringen bilden auf der anderen Seite die tastenden Bemühungen sogar des Chauffeurs, der seines Weges nicht sicher ist und manchmal wieder umkehren muß..." Bis Park&Rail erfunden wurde.

Jede technische Neuerung entzaubert ein bißchen von der Welt und ermöglicht andererseits neue Erfahrungen. Zwar wird "die individuelle Lage an einem einzigartigen Punkt" ihres Geheimnisses entkleidet, aber dafür kann man "in feinster Präzision dem schönen Maß der Erde" nachspüren.

Charlus und Morel sitzen im Restaurant. Charlus möchte die drei verwelkten Rosen von ihrem Tisch entfernt wissen. "'Mögen sie Rosen nicht?'" fragt ihn Morel, "'Ich würde durch das in Frage stehende Anliegen im Gegenteil beweisen, daß ich sie liebe, da das hier ja gar keine Rosen sind.'" antwortet Charlus, der ein schwieriger Gast zu sein scheint. Auch den Schaumwein läßt er zurückgehen: "'Dies ist ein Brechmittel mit dem Namen 'cup', bei dem gewöhnlich drei verweste Erdbeeren in einer Mischung aus Essig und Selterswasser schwimmen...'" Er sollte sich vorsehen, Kritik hat dem Gast noch nie etwas gebracht, die Kellner sitzen am längeren Hebel und werden ihm in seinen Champagner spucken.

Die beiden mutmaßen über mögliche Invertierte in ihrem Blickfeld, und Morel erzählt seinen unmoralischen Traum, ein Mädchen zu entjungfern und ihm noch am gleichen Abend den Laufpaß zu geben, was Charlus erregt: "Monsieur de Charlus konnte sich nicht enthalten, Morel zärtlich ins Ohr zu kneifen." Schon die Vorstellung hat ihm "im Nu zu einem Gefühl vollkommener Lust verholfen..." Danach beruhigt sich seine sadistische Seite wieder und er kommt auf Höheres zu sprechen, Chopin und Beethoven.

Dann versetzt er der Selbstachtung des Obers den Todesstoß, indem er eine Birne bestellt. Sie führen aber weder die "Doyenné des Comices", noch die "Triomphe de Jodoigne", die "Virginie-Dallet" und die "Passe-Colmar". Nach der "Duchesse-d'Angoulême" muß er gar nicht fragen, die sei ja noch nicht reif. Da muß ich doch gleich damit protzen, schon einmal eine "Josephine von Mechelen" gegessen zu haben.

Während Albertine in der abgelegenen Kirche malt, die Marcel nur, wenn er allein darin wäre, Genuß verschaffen könnte, fährt er mit dem Auto durch die Gegend. "Angeblich mit ganz etwas anderem beschäftigt und genötigt, sie zugunsten sonstiger Vergnügungen sich selbst zu überlassen, dachte ich gleichwohl nur an sie." Und er stellt sich vor, wie dieselbe Meeresbriese, die ihn im Vorbeistreichen berührt, zu ihr gelangt und ihr das Antlitz umfächelt.

Aber die Straßen, die zu ihr führen würden, erinnern ihn an frühere Straßen und Obsessionen. "...sie erinnerten mich daran, daß es mein Schicksal war, immer nur Phantome zu verfolgen, Wesen, deren Wirklichkeit zu einem guten Teil nur in meiner Einbildungskraft bestand." Damit ist er ja schon sehr weit in seiner Selbsterkenntnis, ob es aus diesem Muster einen Ausweg gibt? Sonst passiert immer das gleiche, wenn man ihr Freund geworden ist, hat man "nichts Eiligeres zu tun", als an eine andere zu denken. Warum dann überhaupt der Aufwand, sie zu gewinnen? Der verstorbene Swann würde nicht so fragen. Wenn Marcel denkt, daß die Birnbäume und Büsche ihn überleben werden "meinte ich von ihnen den Rat zu empfangen, mich endlich an die Arbeit zu machen, solange die Stunde der ewigen Ruhe noch nicht gekommen war."

Unklares Inventar: - Camayeus.

  • Diplomatenschnittchen.
  • Natterkopf, Coreopsis.
  • Blumen und Früchten "chemin de table" herstellen.
  • wattman.
  • Stamati.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Hinter einem Übermaß an Sicherheit die Scheu verbergen, welche man selbst bei seinem Vorschlag empfindet.

  • Eine jener "kollektiven und universalen Arten des Lächelns, welche bei Bedarf – so wie man die Eisenbahn oder für einen Umzug den Möbelwagen benutzt – alle Menschen verwenden..."

Bewußtseinserweiterndes Bild: "Wir fuhren ab und wurden einen Augenblick noch von den kleinen Häusern begleitet, die mitsamt ihrem Blumenschmuck an den Weg geeilt kamen."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Dem Automobil jedoch hält kein Geheimnis stand..."

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