Schmidt liest Proust |
Mittwoch, 8. November 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 435-456 jochenheißtschonwer, 08.11.06, 22:23
Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch. Seite 435-456 Es gibt also eine "Regel der drei Adjektive", wenn man einem lobenden Adjektiv zwei weitere folgen läßt. Bei Madame de Cambremer d.Ä. (um ab jetzt mal der Verwechslung mit ihrer Schwiegertochter Madame de Cambremer-Legrandin vorzubeugen) bilden diese Adjektive ungewöhnlicherweise keine Steigerung, sondern ein Diminuendo. Wenn Marcel zum Abendessen komme, werde sie "'entzückt – glücklich – zufrieden'" sein, schreibt sie. Ein Adjektiv mehr, vermutet er, und von der "Eingangsliebenswürdigkeit" würde nichts mehr übrig bleiben. Charlus spricht sich ganz freundlich über Kaiser Wilhelm aus, diesen "Edelmann letzten Ranges". Allerdings verstehe er nichts von Malerei und habe "Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen." Das ist nun eine eigenartige Vermischung von Fiktion und Realität, weil es doch keinen Herrn Elstir gibt, aber einen Herrn Tschudi. Außerdem ist der Vorgang ja bekannt, oder nachprüfbar. Man kann aber als Autor nicht erwarten, daß der Leser deshalb den fiktiven Maler für echter halten würde. Wenn Proust konsequent wäre, müßte er zu Balbec, Elstir, Combray, Bergotte, Vinteuil, Charlus doch eigentlich auch einen deutschen Kaiser nur für seinen Roman erfinden. (Allerdings wäre die Aussage: "Wenn es Elstir gibt, dann hat Wilhelm alle Elstirs aus den nationalen Museen entfernen lassen" rein aussagenlogisch gesehen natürlich trotzdem war.) Korrekterweise dürfte man ja die ganze Zeit nicht von "Marcel" sprechen, wenn man vom Erzähler spricht, der Name ist bis jetzt, soweit ich das überblicke, noch nicht gefallen. Aber diese akademische Diskussion über Autoren-Ich und Figuren-Ich boykottiere ich gerne ein bißchen. Den Autor möchte ich sehen, dessen Figuren-Ich sich von seinem Autoren-Ich so einfach ablösen läßt. Richtiger ist doch, daß beide in gleichem Maß fiktiv sind. Es irritiert jedenfalls, wenn der Erzähler behauptet, er könne "heute" nicht sagen, wie Madame Verdurin "an jenem Abend" gekleidet war, "...über Beobachtungsgabe verfüge ich nicht". Ist das kokett? Madame Cottard erliegt, mitten im Raum sitzend, der "unweigerlich bei ihr auftretenden Wirkung der Stunde nach dem Essen" und überläßt sich nach vergeblichem Widerstand einem leichten Schlaf. "Sei es, daß ein Wille, dem Schlaf zu widerstehen, bei Madame Cottard weiterbestand, sogar wenn sie schlief, sei es, daß der Fauteuil nicht genügend Stütze für ihren Kopf bot, jedenfalls schaukelte dieser mechanisch von links nach rechts und von oben nach unten im Leeren wie ein willenloses Objekt, und derart schwankenden Hauptes erwecke Madame Cottard bald den Eindruck, sie höre eine musikalische Darbietung an, bald aber, sie befinde sich in der letzten Phase der Agonie." Dieses Schwanken, das ich in der S-Bahn so oft bei anderen beobachtet habe, wenn sie drohen, in den Mittelgang zu kippen, sich aber im Schlaf immer wieder aufrichten. Ich bin selbst so müde, wenn ich jetzt auch noch über Müdigkeit nachdenken soll, schaffe ich mein Seneca-Pensum für morgen nicht mehr, und ich will doch mein Streberimage festigen, jetzt, wo ich nicht mehr darauf angewiesen bin, mit meinen Mitschülern befreundet zu sein, sondern so viele Freunde im Internet habe. Unklares Inventar: - Affäre Eulenburg.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Jemandem "den rasch wieder abgewendeten Blick eines Kurzsichtigen und eines Philosophen" zuwerfen.
Verlorene Praxis: - Anderen fossil vorkommen.
Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Da aber die Eindrücke, die für mich den Dingen ihren Wert verliehen, anderen Menschen entweder nicht bekannt sind oder, weil sie sie belanglos finden, gedankenlos beiseite geschoben werden und infolgedessen, wenn ich sie hätte mitteilen können, unverstanden geblieben oder mißachtet worden wären, waren sie schlechthin unverwendbar für mich..." Motto für meinen nächsten Interviewband: - "Im übrigen ist hier nicht der Ort, diese Menschen zu schildern, die weit über dem Leben der Gesellschaft stehen, aber sich außerhalb davon nicht zu entfalten vermögen und glücklich sind, in ihren Schoß aufgenommen zu werden, verbittert aber, dort verkannt zu sein."
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