Schmidt liest Proust |
Dienstag, 7. November 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 413-435 jochenheißtschonwer, 07.11.06, 22:55
Andere verreisen, um mal auf andere Gedanken zu kommen, das geht leider bei mir zeitlich und emotional nicht mehr, aber bei Wohltats gab es Gustav Fischers "Landmaschinenkunde", ein Buch aus den 20ern, und Fachwortschatz ist ja für einen Autor auch so etwas wie Urlaub. Es tut einfach gut, einmal Begriffe zu tippen, die nichts mit Seele, Neid und Einsamkeit zu tun haben (und zudem für jeden Übersetzer eine echte Herausforderung sein dürften.) Deshalb: Glockengöpel, Sielengeschirr, Schwungkugelregler, Klauenkupplung, Rübenköpfer Siedersleben, Zentralschmierapparat mit Tropfölern, Staufferbuchse, Schmierpumpe, Vorgelege mit Riemenausrücker, Stotzsche Stahlbolzenkette, Dibbelmaschine, Dauermilcherhitzer, Ringschmierlager, Fuderablader, Haspelheuwender, Hordentrocknung, Ölkuchenbrecher, Schwingschüttler, Pommritzer Rübenrodepflug, Hederichspritze, exzentrisches Planetengetriebe, Auflöseapparat, Kettendüngerstreuer mit Streudüngerkette, Tiefkrümelpflug, Entleerungsstellung... Man atmet richtig auf. Die deutsche Sprache kann so viel mehr, als meine Seele zu beschreiben. Aber wenn man dann Sätze liest, wie: "Da die Streuwelle den Dünger nicht immer sicher durch den unter ihr liegenden Schlitz hindurchschiebt..." wird einem plötzlich der Subtext klar. Natürlich, wer 500 Seiten in diesem Stil schreibt: "Von der Bodenwalze wird der Dünger unterhalb des Streuschlitzes durch einen straff gespannten, starken Draht abgestreift und der noch haftende Rest durch eine angeschärfte Messerschiene entfernt. Damit sich die Lage der Rührwelle zum Schlitz nicht verändert, wird der Stellschieber nicht geradlinig verschoben, sondern um die Rührwelle geschwenkt...", der dürfte eine gewaltige sexuelle Sublimierungsleistung vollbracht haben, auf die uns Gustav Fischer mit seinem Buch vielleicht nur hinweisen wollte. Offensichtlich hatte er keine glückliche Ehe. Diese Landmaschinenkunde scheint in Wirklichkeit nichts als ein rührender Schrei nach Liebe zu sein: "Jedes mal, wenn ich das Sielengeschirr anlege und in Entleerungsstellung gehe, kommt dieser Fuderablader mit seinem Glockengöpel und führt sich auf wie eine Dibbelmaschine. Das nächste mal kriegt er es mit meiner Stotzschen Stahlbolzenkette zu tun! Ich bin ein exzentrisches Planetengetriebe und kein Ringschmierlager für seinen Schwingschüttler! Der wird sich wundern, wie schnell aus einem Dauermilcherhitzer ein Rübenköpfer wird!" Seite 413-435 Soll man in Albertine verliebt sein, oder nicht? Die Frage muß man sich immer dazudenken, denn sie geht Marcel vermutlich nicht aus dem Kopf, auch wenn er nicht darüber spricht. Die Mutter sagt, sie würde diese Bindung gut finden, wenn sie ihn glücklich macht. Aber genau das macht ihn wieder unglücklich, wie schon damals, als der Vater sich so überraschend einverstanden erklärte, ihn ins Theater gehen und Literat werden zu lassen. In dem Moment war er selbst für sein Schicksal verantwortlich und es kam "die gewisse Schwermut, die einen überfällt, wenn man nicht länger Befehlen gehorcht, die von einem Tag zum anderen die Zukunft verdecken..." Vielleicht hätte er sich in Nordkorea ja wohler gefühlt, wo es nie an Befehlen fehlt, die einem die Zukunft verdecken. Professor Brichot, einer von Madame Verdurins Getreuen, die sie "meine Kinder" nennt, kommt nach seinen Ausführungen zu den Ortsnamen nun auch auf die Etymlogie der Personennamen zu sprechen, ein nicht weniger faszinierendes Thema. In vielen Familiennamen stecke ein Baum, wie in Freycinet "fraxinetum", die Esche. Da wir nicht mehr im zwanzigsten Jahrhundert leben, dürfen wir es uns erlauben, den Monolog in Form einer Liste abzukürzen: Saulces - salix - Weide Selves - silva - Wald Houssaye - Stechpalme d'Ormesson - Ulme La Boulaye - Birke d'Aunay - Erle Bussière - Buchsbaum Albaret - Splint (helles, junges Holz) Cholet - Kohl La Pommeraye - Apfelbaum Ein berühmter norwegischer Philosoph ist übrigens auch zugegen, wurde aber bisher noch nicht erwähnt. Er spricht, wie viele Ausländer, sehr langsam, weil er "...bei jedem Ausdruck ein inneres Wörterbuch zu Rate ziehen mußte." Und er zeichnet sich durch das schwindelerregende Tempo aus, mit dem er sich immer davonmacht, nachdem er adieu gesagt hat: "Seine überstürzte Eile rief beim ersten Mal den Eindruck hervor, er leide an einer Kolik oder einem noch dringenderen Bedürfnis." Die Beschreibung des Abends läuft so ein bißchen wie in "Short cuts", Schnitt folgt auf Schnitt. Jetzt erfährt Cottard von Ski, daß Charlus "einer von der Bruderschaft" ist, "der das Leben auch von der anderen Seite kennt". Aber Cottard konstatiert: "Immerhin hat er keine Speckröllchen um die Augen." Die Geschichte der Vorurteile ist um eine interessante Unterstellung reicher. Saniette wird konsequent auflaufen gelassen, man braucht ihn ja nur, um ihn zu quälen. Wenn er einmal einen halbwegs witzigen Spruch anbringen kann, dann wird er des Plagiats beschuldigt, weil die Runde diesen Spruch bereits aus dem Mund eines anderen kennt, dem er ihn früher einmal gesagt hatte. "Jeder lacht über einen Menschen, sobald er sieht, daß die andern sich über ihn lustig machen, ist aber umgekehrt ebenso bereit, ihn zehn Jahre später in einem Kreis, in dem er bewundert wird, ebenso mit seiner Verehrung zu bedenken." Schließlich wird Elstirs gedacht, der dem "kleinen Kreis" früher einmal angehört hatte, dessen Heirat mit einer ihr unwürdig erscheinenden Frau Madame Verdurin nicht verhindern konnte, und der seitdem abtrünnig geworden ist. Im übrigen habe er auch sein Talent an Riesenschinken verschleudert, sagt sie. Aber schon damals war er damit aufgefallen, daß er Cottard mit lila Haaren porträtiert hatte. Die Frage des Abends ist, ob Charlus oder Monsieur de Cambremer an der Hand des Hausherren zu Tisch gehen soll, wer also rein rangmäßig der höchste Ehrengast ist. Charlus betont mit scheinheiliger Bescheidenheit, daß es doch keine Bedeutung habe, daß er ranggemäß nach Monsieur de Cambremer plaziert worden sei: "Er hängte ein kleines Lachen an, das eine Besonderheit von ihm war – ein Lachen, das wahrscheinlich von irgendeiner bayerischen oder lothringischen Großmutter stammte, welche es in ganz der gleichen Form von einer Ahnin übernommen hatte, so daß es dergestalt unverändert seit vielen Jahrhunderten an alten kleinen Höfen Europas aufgeklungen war und man seinen kostbaren Ton wie den gewisser, überaus selten gewordener alter Instrumente genoß. Es gibt Fälle, in denen zur Vervollständigung der Personenbeschreibung eine phonetische Wiedergabe unerläßlich wäre." Hier könnte ein Link zu einer Sound-Datei stehen, aber würde das den Roman besser machen? Unklares Inventar: - Odeonien.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Während Brichot lächelte, um darauf hinzuweisen, wie geistreich es sei, so Heterogenes zu verbinden und für alltägliche Dinge eine ironisch gehobene Sprache zu verwenden..." Verlorene Praxis: - Sich "an verworrenen Reminiszenzen" berauschen. Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Eines der Dinge, die man zu jenem Zeitpunkt 'wissen' mußte, war eben, daß Wissen nichts ist und keinerlei Gewicht hat neben wirklicher Originalität. Madame de Cambremer hatte, wie alles übrige, auch gelernt, daß man nichts lernen dürfe."
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