Schmidt liest Proust |
Sonntag, 5. November 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 373-393 jochenheißtschonwer, 05.11.06, 22:47
Als ich 2003 über die Bretagne schreiben mußte, und mich dort - während das Mädchen, in das ich zu der Zeit verliebt war, mit einem Freund durch Andalusien reiste und mir keine E-Mails schrieb-, wochenlang von Kreisverkehr zu Kreisverkehr katapultierte, von einer "petite ville de caractère" hin zur nächsten zu Tode beschilderten Sehenswürdigkeit, habe ich im von Studenten und Touristen überschwemmten Schmuckkästchenzentrum von Rennes in einem Comicgeschäft "Pjöngjang" von Guy Delise entdeckt und trotz des Preises sofort kaufen müssen. Es war wirklich ein Trost, in einer Hölle des Tourismus zu sitzen und diesen Comic über eine Reise zu den Antipoden des Tourismus zu lesen. Und der Autor hatte genau die richtige Perspektive, weil er in einem Buch über einen Aufenthalt in Nordkorea das Gefühl, sich im Hotel mit Schuhen aufs Bett zu legen, für mitteilenswert hielt. Weil kaum einer meiner Freunde französisch sprach, hätte ich das Buch gerne übersetzt, weil es so traurig ist, seine Freuden nicht teilen zu können. Der einzige in Frage kommende Comicverlag, den ich vom Namen her kannte, war Reprodukt, und es stellte sich heraus, daß sie sowieso planten "Shenzhen" zu machen, den vorigen Band von Guy Delisle, in dem der Autor in eine boomende Betonzone Chinas reisen muß, um dort französische Trickfilmproduktionen zu überwachen. Ich durfte "Shenzhen" übersetzen und habe nebenbei bei meinen Besuchen in deren Kreuzberger Büro das Programm von Reprodukt entdeckt und auf dem Heimweg verschlungen. Es ist traurig, daß die Bücher von Daniel Clowes, Adrian Tomine, Lewis Trondheim oder Mawil in deutschen Buchhandlungen nicht unter "Literatur" stehen, sondern, wenn überhaupt, irgendwo in der Kinderecke. Aber das ist ein anderes Thema, ich habe ja schon einmal vorgeschlagen, alle Deutschen umzusiedeln, dann müßte man im Urlaub auch nicht mehr wegfahren, weil es ja, bis auf die Menschen, in Deutschland eigentlich ganz schön ist. Nächstes Jahr nun soll bei Reprodukt endlich auch "Pjöngjang" erscheinen, sozusagen das Buch zum Atombombenversuch. Es ist zeichnerisch noch etwas feiner als "Shenzhen", und der Autor beschreibt wieder in äußerst sympathischer Weise, wie man sich von einer völlig fremden Umgebung überfordert fühlen kann. Aber vor allem bekommt man seltene Informationen über ein Land, in das zu reisen man ja so gut wie keine Chance hat. Ich bin immer auf der Suche nach mir noch nicht bekannten Extravaganzen von Diktatoren, und Nordkorea hat da einige zu bieten. Es ist nicht einfach, sich im Wettbewerb der Exzentriker einen Namen zu machen. Der große Ryszard Kapuściński, der dieses Jahr beim Nobelpreis wieder übergangen worden ist, schreibt: "Wenn ich über meine Diktatoren schreibe, lese ich Lehrbücher über Kinderpsychologie. Dort werden sie genau beschrieben." Der Satz hat zwei Richtungen, einerseits scheint es gewagt, Diktatoren mit Kindern zu vergleichen (allen die keine haben...), andererseits bekommen dadurch die Diktatoren auch etwas von der schrulligen Divenhaftigkeit der Kinder ab, und obwohl sie so viele Menschen mit ins Verderben reißen, muß man sagen, daß Diktatoren oft auch etwas von Kindern oder Künstlern haben, schon weil ihre Gedankengänge so unberechenbar sind. Kim Il-Sung, der Vater des jetzigen Präsidenten Kim Jong-Il, ist 1994 gestorben, gilt aber, laut Verfassung, auch nach seinem Tod noch als Präsident. Die Zeitrechnung in Korea beginnt mit seiner Zeugung (was skurril klingt, aber womit beginnt eigentlich unsere Zeitrechnung?) Man darf ins Land keine Radios einführen, es gibt nur ein (staatliches) Fernsehprogramm (sonntags auch zwei), das vorwiegend Aufmärsche und irgendwo geklaute Dokumentationen sendet (braucht man Fernsehen? Ich habe keins mehr.) Jeder Ausländer wird ständig von einem Dolmetscher und einem Führer begleitet (klingt anstrengend, aber in anderen Ländern bezahlt man für solch einen Service). Überall arbeiten "Freiwillige" an der Verschönerung der Stadt, oder sie helfen bei der Reisernte aus (klingt nach Zwang, aber arbeiten bei uns nicht auch "Freiwillige" bei der Spargelernte und auf den Grünflächen?) Die internationalen Hilfslieferungen werden vom Regime, nachdem man genug zum eigenen Profit abgezweigt hat, je nach Loyalität an die Bevölkerung verteilt (klingt verbrecherisch, aber in anderen Ländern ist Schiebung bei so etwas natürlich auch gang und gäbe, nur daß das Verbrechen dort nicht staatlich monopolisiert ist.) Kim Jong-Il hat seinem Vater zum 70. einen Turm aus Granitblöcken geschenkt, für jeden Lebenstag ein Block. Dieser "Juche-Turm" ist der höchste seiner Art weltweit. Er steht für die "Juche", die offizielle Ideologie, die Kim Il-Sung "um die Erwartungen seines Volks zu erfüllen" als Weiterentwicklung von Marxismus und Maoismus ausgearbeitet hat. Aus Pjöngjang heraus führt eine fast unbefahrene Autobahn (kaum jemand hat Autos, nachts gibt es keine Straßenbeleuchtung) zum "Museum der Freundschaft", wo die Geschenke aus aller Welt für Kim Il-Sung gezeigt werden. Das Museum ist atombombensicher in einen Berg gebaut. Kim Jong-Il soll angeblich während des Studiums 1200 Bücher publiziert und sechs Opern geschrieben haben. Bei seiner ersten Partie Golf soll er 11 von 18 Löchern mit einem Schlag getroffen haben. Überall finden sich Stilisierungen seines "perfekten Gehirns" in Form einer Blume, der Kimjongilia. Offiziell gibt es keine Behinderten, weil Korea eine sehr homogene Nation sei und alle Menschen gesund geboren würden. Weil Kim gesagt hat, daß Fahrradfahren ungesund für Frauen ist, fahren sie auf Dreirädern. Während seine Bevölkerung von der Außenwelt abgeschirmt ist, soll er ein großer Fan des französischen Kinos sein. Jedenfalls habe ich die Übersetzung jetzt durch (kleine Preisfrage: was heißt "Lé la?") und kann mich nun endlich dem Nachruf für Frau Vampiros Schützling widmen. Vielleicht bleibt ja nebenbei sogar noch die Zeit, mich endlich mal wieder zu waschen. Seite 373-393 Im von den Verdurins zum Bahnhof geschickten Wagen nähert man sich der Steilküste. Marcel hat "noch niemals etwas so Schönes gesehen." Er läßt sogar die Scheibe herab, wobei man vor allem darüber staunt, daß man das in den damaligen Wagen schon konnte. Sein Enthusiasmus fällt auf, Cottard sagt, er lasse sich "zu sehr von Gefühlen beherrschen", und es würde ihm "guttun, Beruhigungsmittel einzunehmen", oder sich "mit Stricken zu beschäftigen." Man staunt etwas, wenn Marcel ohne ersichtlichen Grund sagt: "Ich liebte die Verdurins". Denn aus dem, wie er sie schildert, wird nicht im entferntesten deutlich, was er an ihnen lieben, oder auch nur interessant finden könnte. Madame Verdurin leidet nicht nur an "den unvermeidlichen Verheerungen des Alters", sondern die Musik, die ja im Mittelpunkt ihrer Salons steht, hat ihren Gesichtsausdruck zu einer ständig überwältigten Miene geformt: "Unter der Einwirkung der zahllosen Neuralgien, deren Ursache jeweils die Musik von Bach, von Wagner, von Vinteuil, von Debussy gewesen war, hatte die Stirn von Madame Verdurin enorme Proportionen angenommen wie Glieder, die der Rheumatismus schließlich deformiert." Das Ergebnis ist ein "grandios verwüstetes Antlitz". Der "kleine Kreis" ist eine Inszenierung zur Verdrängung des Todes. Das Verscheiden selbst der langjährigsten Getreuen wird möglichst übergangen, da diese ja nicht mehr teilnehmen können, und man sie mit Worten auch nicht wieder lebendig macht. Ein anderer natürlicher Feind des "kleinen Kreises", den Madame Verdurin bekämpft, ist die Familie mit ihren irrationalen und nicht auf individueller Wahl gründenden Banden. Der neue Stern bei den Verdurins ist der Violonist Charles Morel, der Sohn eines Dieners von Marcels Onkel. Er scheint auch mit Charlus ein Verhältnis zu haben. Jedenfalls ist er eigenartig zu Marcel, was diesem aber nichts ausmacht, da er "Vergnügen an der Vielfalt der Menschen fand, ohne etwas von ihnen zu erwarten oder ihnen deswegen böse zu sein..." Im Idealfall bringt man es als Autor zu diesem Grad von Unaufgeregtheit, man steht dann nur noch in der Ecke und registriert ganz emotionslos die Stimmungsschwankungen, wie diese Luftfeuchtigkeitsmesser im Museum. Unklares Inventar: - Camyeumalerei. Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Er war ein Bursche "mit einem jener melancholischen Gesichter, deren allzu starker Blick darauf hinweist, daß sie sich um ein Nichts furchtbar grämen, ja in Schwermut verfallen können." Verlorene Praxis: - Weil es einen langweilt, über einen Todesfall zu sprechen, so tun, als sei man so erschüttert davon, daß man aus gesundheitlichen Gründen nicht darüber sprechen könne.
Heilsame Praxis: - "...sich von der Schönheit eher umspülen zu lassen, als daraus ein tiefergehendes Anliegen zu machen." Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Wenn die Medizin nicht wirklich zu heilen vermag, gibt sie sich damit ab, den Sinn der Verben und Pronomina abzuwandeln."
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