Schmidt liest Proust
Dienstag, 31. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 273-293

Die Redaktionssitzung für die kleine Literaturzeitschrift, bei deren aktueller Ausgabe ich Gastredakteur bin, fand im Wedding statt, der Flur des Hauses wirkte, wie früher unsere Flure im Osten, als hätte man einfach beide Seiten vertauscht, was man auch einfacher hätte haben können, durch Umbenennung der Himmelsrichtungen. Das Abendlicht, das durch die gemusterten Preßglasscheiben fiel, der Geruch von abgestandener Erbsensuppe, das alte, blankgescheuerte Linoleum, die unrenovierte Fassade auf dem Hinterhof, von der der Putz abblätterte. So hatte ich es haben wollen, als ich aus dem Neubau in den Altbau zog, und so war es damals auch noch. Da die anderen Redakteure seit fast 20 Jahren mit Einsendungen für ihr Heft zu tun haben, kennen sie ihre Pappenheimer. Es gibt, das kann man sagen, wenige Texte, die nicht so sind, wie sie nicht sein sollten. Ich weiß jetzt, was nicht gut ankommt: Texte, in denen über die Bahn geschimpft wird, Texte, in denen der Autor denkt, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären, wie er, Texte über junge Väter, Texte, in denen am Ende aufgewacht wird, Katzentexte, Märchen, Texte über peinliche Prominente, Texte übers Schreiben, lange Texte. Prousts Text ist ja lang, es wird hier und da aufgewacht, es geht ganz entschieden ums Schreiben, es kommen viele peinliche Prominente vor, der Autor denkt mit Sicherheit, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären, wie er (wie könnte man andernfalls auch weiterleben?), allerdings wird die Bahn mit Wohlwollen betrachtet, der Text ist kein Märchen, der Held wird voraussichtlich nicht Vater werden und Katzen kamen bisher erfreulich wenig vor. Wenn man ihn überreden könnte, alles auf 3-4000 Zeichen zu kürzen, hätte er vielleicht eine Chance.

Seite 273-293 Madame de Cambremer und ihre Schwiegertochter Madame de Cambremer-Legrandin, sind sich uneinig über Chopin, die ältere ist "noch in der Verehrung Chopins erzogen worden" und hat ihren Anschlag bei einer Lehrerin erlernt, die Chopin noch spielen hören hat. Ich erinnere mich an eine Schallplatte mit ausschließlich Aufnahmen von Pianisten, die Liszt noch spielen gehört haben. Vielleicht war die Tradierung von Ohr zu Ohr ja eine natürlichere Entwicklung, als heute, wo man sich von Tonaufnahmen beeinflussen lassen kann. Marcel möchte sich gegenüber Madame de Cambremer-Legrandin für Chopin einsetzen und wendet dabei eine interessante Gesprächstechnik an: "Ich machte mir ein Vergnügen daraus, sie darüber zu belehren – doch nur, indem ich mich in dieser Absicht an ihre Schwiegermutter wendete, so wie man beim Billardspiel, um eine Kugel zu treffen, über die Bande spielt, daß Chopin, weit entfernt, aus der Mode zu sein, der Lieblingskomponist Debussys sei."

Madame de Cambremer-Legrandin hat sich bei den Cambremers übrigens eingeheiratet, um das Vergnügen auskosten zu können, dann einen Onkel namens "de Chenouville" zu haben, und ihn, einer Familientradition gemäß, "Onkel de Ch'nouville" auszusprechen. Ein etwas dürftiger Anlaß für eine Eheentscheidung, möchte man meinen.

Leider kann niemand verhindern, daß die Madame Marcel eine Einladung ausspricht, sie zu besuchen, sie will ihm dann Chopin vorspielen. Vielleicht findet er ja noch eine Ausrede, es würde dem Buch guttun. Als sie schließlich endlich in ihre Kalesche steigt, heißt es: "Der Gerichtspräsident erwies mir, ohne es zu wollen, einen sehr großen Dienst, indem er die Marquise am Arm faßte, um sie zu ihrem Wagen zu führen..."

Erstaunlich, wie unaufgeregt Marcel mit der Wandelbarkeit seines Begehrens umgeht, im Hotel "...bemerkte ich in diesem Augenblick, ein Keilkissen schleppend, ein grauenhaft häßliches Zimmermädchen [..] Ich hätte gern gewußt, ob es dieselbe Person sei, nach der ich am Abend meiner Ankunft in Balbec so sehr verlangt hatte, doch konnte ich zu keiner Gewißheit kommen."

Albertine folgt ihm auf sein Zimmer, und will wissen, was er gegen sie habe, weil er so oft unfreundlich zu ihr sei. Der Schlingel führt aber keine Versöhnung herbei, sondern setzt noch einen drauf, mit dem Ziel, "...meine Freundin zu mir in eine Situation von Furcht und demütigem Flehen zu bringen..." Er lügt ihr nämlich vor, insgeheim eine große Leidenschaft für Andrée zu hegen, ein erlogenes Geständnis, bei dem ihm dennoch die Tränen kommen. Um noch glaubwürdiger zu erscheinen, gesteht er zudem ein, sich früher einmal fast in Albertine verliebt zu haben.

Er findet dieses widersprüchliche Verhalten typisch für Menschen, wie ihn, die zu sehr an sich selbst zweifeln, um an die Liebe einer Frau glauben zu können. Sie wissen "...daß ihre Gefühle, ihre Handlungen in keinem nahen und notwendigen Zusammenhang mit der geliebten Frau stehen, sondern neben ihr herlaufen, sie zuweilen mit kleinem Wellenschlag berühren oder sie rings umfluten wie die Woge, die sich an den Felsen bricht; das Gefühl ihrer eigenen Wandelbarkeit aber vermehrt bei ihnen noch die mißtrauische Befürchtung, daß diese bestimmte Frau, von der sie so gern geliebt sein würden, sie gewiß nicht liebt." Und wenn der Zufall dem "Anbranden unserer Wünsche" so ein beliebiges Objekt bereitgestellt hat, verwirrt einen zudem, "daß die Sprache, die wir ihr gegenüber verwendet haben, nicht eigens für sie erschaffen ist, sondern uns schon für andere gedient hat und wieder dienen wird..." Und es ist ja nicht nur immer dieselbe Sprache, die uns bei jeder aufs neue dienen muß... Man kann sich natürlich einmal in jeder Fremdsprache der Welt verlieben, dann muß man sich nicht wiederholen. Oder man lernt mit seiner Geliebten eine ausgestorbene Sprache, die man dann ausschließlich zu zweit spricht, nur um die ärgerlichen Klischees und Tautologien des Liebesgeflüsters zu vermeiden. Oder man verzichtet aufs Sprechen und drückt seine Gefühle anders aus, z.B. mit Steppen.

Zu dem Mißtrauen und der Härte gegen die Frau, die der eigenen Unsicherheit geschuldet sein soll, kommt bei diesem Menschentyp eine Gegenbewegung, nämlich das zärtliche Eingeständnis, zu dem Marcel gleich übergehen will, wenn er Albertine erst genug erschreckt hat, und er beginnt "mit einer sanften Freundlichkeit zu ihr zu sprechen, die ich mir seit so langer Zeit versagt hatte und die mir nunmehr köstlich schien." Es wäre sicher genauso fatal, sich beim Schmieden seines Glücks an diesem Vorbild zu orientieren, wie an den Ratschlägen aus "Der perfekte Liebhaber".

Unklares Inventar: - Ranunculacee.

  • Chiné-Seide.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "'Natürlich weiß ich', antwortete sie, aber 'ich weiß es ganz und gar nicht' war deutlich auf ihren Zügen und in ihrem Antlitz zu lesen, auf denen sich keine Erinnerung abzeichnete, sowie ihrem haltlos in der Luft schwebenden Lächeln."

  • "Das jedoch, sagte er mit listiger Miene und erhobenem Zeigefinger wie jemand, der genau zu unterscheiden und zu argumentieren weiß..."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Wenn der Gott seine Zweifel hegt, so stopft er die kleinen undichten Stellen in seiner Meinung über sich selbst leicht mit dem unwiderleglichen Zeugnis von Wesen aus, die seinem Schaffen ihr Leben weihen."

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