Schmidt liest Proust |
Samstag, 28. Oktober 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 233-253 jochenheißtschonwer, 28.10.06, 21:24
Mein Beziehungsbild ist für alle Zeiten von dem Paar geprägt, dessen Foto auf der Packung des "SuperHirn"-Spiels von Parker zu sehen war. Vor dem schwarzen Hintergrund eines unergründlichen Raums sitzt ein bärtiger, graumelierter Herr in einem Sessel und richtet seinen siegesgewissen, fast schon arroganten Blick auf den Betrachter. Die Fingerspitzen beider Hände ruhen aneinander, die Hände bilden ein Dreieck, was auf höchste geistige Spannkraft schließen läßt. Hinter ihm steht eine schwarzhaarige Asiatin und stützt sich mit der rechten Hand auf die vom Mann verdeckte Sessellehne, der linke Arm hängt elegant herab, das Handgelenk schmückt ein Armband aus Edelsteinen. Nicht genug damit, daß der brillante Geist dieses Herrn ihn zum König des SuperHirn-Spiels gemacht hat, er hat es auch vermocht, mit der Kraft seiner Gedanken, diese exotische Frau zu zähmen, bei der jeder andere zu fürchten hätte, daß sie ihn auf eine nur ihr bekannte, traditionelle Art erdrosseln würde, sobald er ihr einmal den Rücken zukehrte. Wie ein Torero, der auf Knien das Publikum grüßt, den Stier im Nacken, sitzt der Mann da und sieht uns über die spiegelnde Tischfläche hinweg herausfordernd an, die Asiatin hinter sich. So stellte ich mir meine Ehe vor. Seite 233-253 Jajajajaja, ich verstehe schon, sagt man sich manchmal bei Proust, wenn er in der Inszenierung der Biographie seiner Psyche sozusagen die Regieanweisungen mitliest. Natürlich kann er die eben entworfene Apfelbaumidylle nicht einfach so stehen lassen. Aus Furcht, "das Vergnügen, das ich an diesem einsamen Spaziergang gefunden hatte, könne in mir die Erinnerung an meine Großmutter abschwächen", ruft er sich in der Art eines Büßers sofort wieder zur Ordnung, indem er sich die seelischen Leiden der Großmutter vorstellt. "Aber da mein Herz ohne Zweifel zu klein dafür war, hatte ich nicht die Kraft, einen so großen Schmerz zu tragen." Aber er kann sich lange beschwören, sogar in seinen Träumen läßt sein Kummer um sie schon nach, sie wirkt darin gar nicht mehr richtig krank. Trotzdem leidet sein physisches Verlangen immer noch unter dem Trauerzustand, und schlimmer, Albertine beginnt, ihm "etwas wie ein Verlangen nach Glück einzuflößen. Gewisse Träume von geteilter Zärtlichkeit, die immer in uns lebendig sind, heften sich gern durch eine Art von Affinität der Erinnerung (unter der Voraussetzung, daß diese bereits ein wenig verschwommen ist) an eine Frau, mit der wir einen Augenblick des Glücks gekostet haben." Solche Wünsche drängen dann aber doch nicht so stark nach Erfüllung, wie die körperlichen, insofern würde es ihm reichen, sie erst im folgenden Winter wiederzusehen. Doch dieser Zustand hält nicht lange, denn immer, wenn er sich täglich eine lange Weile auf dem Bett ausruht, sehnt er Albertine herbei "um unsere Spiele von ehedem mit ihr wieder aufzunehmen." Was tut man, um sich von so einem störenden Verlangen nach Spielen mit einer Freundin abzulenken? Marcel tritt ans Fenster und betrachtet das Meer. Ob das ein probates Mittel ist? Was tatsächlich funktionieren könnte, um sein Verlangen zu dimmen, wäre, im entsprechenden Moment an Prousts Meerbeschreibungen zu denken, denn die kennen, wie ja auch das Meer, von ihrem Wesen her kein Ende. (Daß einen beim reinen Lesen anstrengende Beschreibungen vom Verlangen nach "Spielen" ablenken würde, darf man bezweifeln. Jemand hat ja einmal behauptet, geistige Arbeit mache lüstern, und ein aufgeschlagenes Buch sehe aus, wie ein Hintern, woran ich seitdem immer denken muß, auch wenn ich nie darauf gekommen wäre.) "Einmal, als ich meinem Verlangen nicht widerstehen konnte, kleidete ich mich an, anstatt mich wieder hinzulegen, und machte mich auf, um Albertine in Incarville aufzusuchen." Ob er damit gut beraten ist? Würde man sich doch immer wieder hinlegen, statt sich anzukleiden... Zum Glück fällt ihm in der Straßenbahn beim Schließen der Vorhänge die Großmutter wieder ein, die damals, bei der ersten Abreise nach Balbec, nicht mitansehen konnte, wie Marcel im Zug gegen seine Nervosität Bier trank. Die aufkommenden Schuldgefühle scheinen ihm aber gutzutun: "Eine solche Erinnerung hatte mir wie mit einem Zauberstab die Seele wieder verliehen, die ich seit einiger Zeit zu verlieren im Begriff gewesen war." Sofort ändert er den Plan und steigt schon in Maineville-la-Teinturière aus, wo ein "Vergnügungslieferant" neuerdings ein "öffentliches Haus für anspruchsvolle Gäste" betreibt, das einzige seiner Art in Frankreich, nicht zu vergleichen mit den Hafenbordellen für "Seeleute und Liebhaber malerischer Eindrücke", vor deren übelbeleumundeter Pforte immer eine "patronne" steht "verehrungswürdig und von Verwitterung bedroht." Er kehrt aber nicht im Bordell ein, sondern wandert auf den Dünen zurück nach Balbec, den "Ruf der Weißdornhecken" vernehmend. Im Hotel liest er eine Todesanzeige für "Eléonore-Euphrasie-Humbertine de Cambremer, Gräfin von Criquetot." Vielleicht soll das nur das Bild komplettieren, Versuchung in Maineville-la-Teinturière, die Mahnung des seit der Kindheit geliebten Weißdorns, und ein Memento mori aus der Zeitung. Später kann er aber nicht mehr anders, er bittet Françoise, Albertine zu holen. Immer noch liebt er sie nicht, noch hat nicht "das schmerzliche und unaufhörliche Mißtrauen eingesetzt, das ich Albertine gegenüber hegen sollte..." Albertine läßt ihn aber warten, sie muß sich noch frisieren und pomadisieren. Dann erscheint sie heiter gestimmt, und es ist keine Rede mehr von einer vorzeitigen Abreise. Aber Françoise, die personifizierte Unbestechlichkeit der französischen Volksseele, sagt zu ihm: "Monsieur sollte dieses Fräulein nicht sehen. Ich kenne genau ihre Art von Charakter, sie wird Monsieur Kummer machen." Aber vielleicht ist es ja gerade das, was ihn an ihr reizt. Später spielt jemand im Hotel Klavier: "Trotzdem gibt es etwas, was eine Macht besitzt, zur Verzweiflung zu treiben, die nie ein Mensch erreichen wird: das ist ein Klavier." Er meint mit Verzweiflung sicher die seelische, aber der Satz stimmt auch, wenn man dabei an seine Nerven denkt. Außerdem ist da dieser seltsam impertinente Liftboy, der sich konsequent weigert, die Anstrengung zu unternehmen, die Zimmertür zu schließen, so daß Marcel sie schließlich selbst mit aller Macht zuschlagen muß. Albertine hat ihm aufgeschrieben, wo sie, wann, bei welchen Freundinnen zu Besuch sein wird. Und immer wenn er sie dort sucht, scheint er ein wenig abseits des Wegs zu grasen, denn von diesen "entgegenkommenden jungen Kameradinnen" haben ihm in dieser einzigen Saison nicht weniger als zwölf "ihre schmächtigen Reize zur Verfügung gestellt." Man sehnt sich eben nicht immer mit der gleichen Kraft nach verschiedenen Frauen. "...nach großer physischer Verausgabung" schweben uns ganz andere Frauen vor "in unserer vorübergehenden senilen Kraftlosigkeit". Aber es gibt trotzdem, wenn auch weit auseinanderliegende Abende, an denen er "schlechterdings nicht auf sie [Albertine] verzichten konnte." Als kleine Vorschau wird uns die Szene geliefert, in der sich die schon so oft angedeutete krankhafte Eifersucht endgültig Marcels Herzen bemächtigen soll. Alles beginnt, wie immer, mit einem Unfall, denn er ist unterwegs mit der Straßenbahn zu Madame Verdurin, muß aber wegen einer Betriebsstörung aussteigen. Er trifft Doktor Cottard und geht mit ihm in ein kleines Kasino, wo er Albertine und ihre Freundinnen weiß, die dort "aus Mangel an Kavalieren untereinander tanzten." Heftiges Verlangen nach Albertine erfaßt ihn in dem Moment, als er sie lachen hört. Andrée tanzt mit Albertine einen Walzer, Marcel ist davon angetan. Der Doktor aber, "der die Sache von dem speziellen Gesichtspunkt des Mediziners ansah und mit einem Erziehungsmangel behaftet war", sagt: "Ja, aber die Eltern sind sehr unklug, daß sie ihre Töchter solche Gewohnheiten annehmen lassen [..] bestimmt befinden sich die beiden jetzt auf der Höhe des Genusses. Es ist nicht genügend bekannt, daß die Empfindung bei Frauen vor allem durch die Brüste geht. Sie sehen ja, wie vollkommen beide sich mit ihren berühren." Jetzt fällt auch Marcel die "unaufhörliche leise Reibung zwischen denen Andrées und Albertines" auf. Plötzlich klingt ihm ihr Lachen grausam. Und wir merken uns, daß Mißtrauen angebracht ist, wenn zwischen zwei Frauen eine unaufhörliche leise Reibung ihrer Brüste stattfindet. Cottard, der sich neuerdings als Spezialist für Intoxikationen versteht, einer neuen Apothekermode, hat an diesem Abend mit seiner Bemerkung das Gift der Eifersucht in Marcel versenkt. Man braucht anscheinend immer die Vermittlung Dritter, um so richtig zu leiden. Aber das war eine Vorschau, noch ist es nicht so weit, noch bringt ihm die Gewißheit, daß Albertine nicht kommen wird "eine vollständige Ruhe, eine Erfrischung beinahe." Überhaupt ist das Angstgefühl, solcher einsamer, mit Warten verbrachter Abende, oft genug auf irgendein Medikament zurückzuführen und wird von dem Leidenden nur falsch als Liebe interpretiert. "Die Liebe entwickelt sich in diesem Fall wie gewisse Erkrankungen aus einer ungenauen Deutung eines peinvollen Unbehagens, einer Deutung übrigens, die klarzustellen nichts nützt, wenigstens nicht, soweit es sich um die Liebe handelt, ein Gefühl, das (ganz gleich, was seine Ursache sein mag) immer auf Irrwegen geht." Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Endlich wollte er immer den Eindruck erwecken, er habe in der ersten Sekunde schon alles verstanden, so daß er, sobald man ihm irgend etwas ans Herz legen wollte, auf der Stelle erklärte: 'Jajajajaja, ich verstehe schon'." Bewußtseinserweiterndes Bild: - "Ein Schleppdampfer, von dem man nur den Schornstein sah, rauchte in der Ferne wie eine weit vorgeschobene Fabrik..." Selbständig lebensfähige Sentenz: "Doch gleichen die Personen, je mehr man sie kennenlernt, desto mehr einem Metall, das man in eine es verändernde Lauge hält; man kann dann beobachten, wie nach und nach ihre Vorzüge (zuweilen auch ihre Fehler) schwinden."
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