Schmidt liest Proust |
Freitag, 27. Oktober 2006
Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 210-232 jochenheißtschonwer, 27.10.06, 21:36
Man verbringt seine Zeit damit, von etwas anderem, als dem zu träumen, womit man seine Zeit verbringt. Jeder andere Beruf scheint heroischer, als der des Schriftstellers. Die beneidenswerten Gesten mir unzugänglicher Tätigkeitsbereiche haben mich immer fasziniert.
Seite 210-232 Der erste Aufenthalt an einem Ort ist von einer anderen Qualität als alle folgenden. Marcel hatte die Fremdheit der Möbel in seinem Zimmer in Balbec beim ersten Besuch ja solche Angst gemacht, daß er sich schrecklich vor der Nacht fürchtete. Diesmal ist er auf bereits erobertem Terrain, aber dafür fehlt wieder der Reiz des Neuen. Wie soll man sich an einem Ort, den man schon kennt, in eine Frau verlieben, oder wenigstens von unbekannten Mädchen träumen? Er fürchtet schon, in Zukunft immer neue Hotels aufsuchen zu müssen, "in denen die Gewohnheit noch nicht auf jeder Etage, vor jeder Tür den erschreckenden Drachen erlegt hätte, der vor einer verzauberten Existenz zu wachen schien..." Beim Aufbinden seiner Schuhe hatte er ja eine unwillkürliche Erinnerung an die Großmutter gehabt und ein Jahr nach ihrem Tod plötzlich die Tatsache ihrer Abwesenheit wirklich verstanden und jähen Kummer empfunden. Deshalb möchte er nicht gestört werden, und auch die Marquise de Cambremer, die ihre Karte abgibt, um ihn auf ihr Anwesen einzuladen, kann ihn nicht locken, obwohl sie eine "Kalesche mit acht Federn" hat, die jeder in der Gegend schon am Klang erkennt. Auch Albertine will Marcel noch nicht sehen, "der Kummer hatte in mir die Möglichkeit des Verlangens ebenso vollkommen ertötet, wie einem ein starkes Fieber den Appetit benimmt..." Er vergleicht diesen Schmerz mit dem der Mutter, die beim Tod der Großmutter ja ganz unmittelbar gelitten hatte. Sie wird im übrigen am nächsten Tag in Balbec eintreffen. "Es schien mir, ich sei weniger unwürdig, mit ihr zusammen zu leben, werde sie besser verstehen, jetzt, wo ein ganz fremdes und herabwürdigendes Leben dem Wiederaufkommen herzzerreißender Erinnerungen Platz gemacht hatte, die wie eine Dornenkrone meine Seele nunmehr gleich der ihren umflochten und adelten." Was wir zuletzt studieren durften, die Berichte von Oberflächlichkeit und geistvoller Bosheit der Salons, waren also Aufzeichnungen aus einem herabwürdigenden Leben. Erst der Schmerz um die Großmutter adelt ihn und hebt ihn auf eine seelische Stufe mit der Mutter, beide sind nun Heilige. Aber es gibt immer noch zwei Sorten Schmerz, den einen, der einem "für immer das Leben raubt" und den anderen, der wieder vergeht, nachdem er sich verspätet eingestellt hat "weil man, um ihn zu fühlen, ihn erst 'verstehen' muß." Die Mutter aber leidet am Schmerz der ersten Kategorie, und zudem ist sie nach dem Tod ihrer Mutter anscheinend in deren Rolle geschlüpft und wirkt auf Marcel wie die verstorbene Großmutter selbst. Als sei sie in der Tradition der herrschenden Adelsgeschlechter nach dem Tod des Chefs in der Hierarchie aufgerückt. Was sie zu Lebzeiten der Großmutter noch von dieser unterschieden hatte, die vom Vater ererbte spöttische Heiterkeit, wird jetzt abgelegt. So geschieht es uns mit einer heißgeliebten Person: "Ist sie einmal gestorben, so würden wir Bedenken haben, anders als sie zu sein, wir bewundern einzig, was sie gewesen ist, also das, was wir zwar schon waren, doch mit anderen Zügen vermischt, und was wir von da an künftig nur mehr ausschließlich sind." Insofern wirkt der Tote mehr auf uns, als er es im Leben getan hat. Die Mutter hält die Exemplare der Briefe der Madame de Sévigné aus dem Besitz der Großmutter in Ehren, sie würde sie nicht einmal für das Originalmanuskript dieser Briefe hergeben, es sind ja Reliquien. Vielleicht würden wir das Originalmanuskript der 10 Gebote auch verschmähen, wenn wir dafür die Hausbibel von Proust haben könnten. Versonnen schreitet die Mutter den Strand ab, als suche sie nach der Verstorbenen, die ja hier ebenfalls Urlaub gemacht hatte. Es ist für sie eine Pilgerfahrt. Beileidsbekundungen ihr unbekannter Hotelgäste sind ihr wichtig, doch: "Die bewegten Worte des einen und das Schweigen der anderen waren, obwohl meine Mutter einen so großen Unterschied dazwischen sah, nur verschiedene Formen, Gleichgültigkeit auszudrücken, welche wir den Toten gegenüber hegen." Ein Problem, für das man nie eine Lösung findet. In Marcels Erinnerung taucht nun die letzte Lebenszeit der Großmutter wieder auf. Seine Schuldgefühle werden verstärkt, weil er erfährt, wie krank sie schon gewesen ist, und daß sie das sorgsam vor ihm verheimlicht hat. Daß die Tür zur Treppe am Tag ihres letzten Spaziergangs aufgestanden hatte, fällt ihm wieder ein, und neben solchen Erinnerungen kommt ihm "die übrige Welt kaum wirklich vor." Die Mutter überredet ihn, auszugehen, aber beim Spazieren wird er ständig überwältigt von Vergegenwärtigungen vergessener Aspekte des Orts, die ihn am Weiterschreiten hindern, "ähnlich wie ein Wind, gegen den man nicht ankämpfen kann." Deshalb schlägt er die Augen nieder. Aber es ist auch keine Lösung, ständig den Urlaubsort zu wechseln. Oder doch? Aber die Kinder wollen nunmal immer wieder dorthin. Wie schwer hat er es doch, verglichen mit diesem kleinen Pagen, der den ganzen Tag auf der Schwelle des Hotels steht und zum Gruß seine Mütze lüftet. "Tatsächlich verstand dieser junge Mann auf der Welt nichts weiter, als die Mütze zu ziehen und wieder aufzusetzen, dies aber in Vollkommenheit. Da er seine Unfähigkeit zu irgendeiner anderen Sache begriffen hatte, führte er wenigstens diese so gut und so häufig aus, wie er es nur irgend am Tage tun konnte, was ihm von seiten der Gäste eine diskrete, aber durchgängige Sympathie eintrug..." Und heute steht dort kein mützenlüftender Page, sondern ein Computer, mit dem man für 5 Euro die Minute surfen kann. Wie schade, wenn man dazu geboren ist, den ganzen Taglang Ankommende zu begrüßen, man wird, da dieser Beruf ausgestorben ist, für immer ein falsches Leben führen. Lange starrt Marcel auf das Foto der Großmutter, das sie von sich hatte anfertigen lassen, als es ihr schon, ohne daß er es geahnt hätte, sehr schlecht ging. Er hält die Augen darauf "starr wie auf eine Zeichnung, die man schließlich nicht mehr sieht, weil man sie zu lange angeschaut hat." Als Albertine kommt, läßt er sie wieder wegschicken, die Ikone der Großmutter hat noch einmal gewirkt. Erst an einem warmen Morgen, als alles sehr heiter und badeortartig wirkt, verspürt er plötzlich den Wunsch "das Lachen Albertines wiederzuhören." Aber als sie dann kommt, ist das Wetter wieder schlechter, und sie lacht nicht, sondern ist schlecht gelaunt, denn der Ort langweilt sie, und sie will zurück nach Paris. Wenn sie an diesem Ort nicht ist wie damals, ist sie für ihn natürlich wertlos. Er begleitet sie nach Hause und nutzt den Rückweg für einen einsamen Spaziergang. Er ist geblendet vom luxuriösen, aber doch ganz natürlichen Blühen der Apfelbäume, die "wie Bauern auf einer großen französischen Landstraße standen." Blaumeisen hüpfen zwischen den Blüten hin und her, der Himmel ist azurblau, am Horizont sieht man das Meer. Dann kommt ein Platzregen und die Blüten stehen im eisigen Wind. Auch ein zum Leiden und zum Kult der Großmutterikone entschlossener Schmerzensmann kann sich dem Frühling nicht verschließen. Dieser bretonische Naturmoment ist Proust immerhin ein Kapitelende wert. Verlorene Praxis: - ein Leben führen, "bei dem man nur nach Hause kommt, um die Krawatte zu wechseln."
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