Schmidt liest Proust |
Freitag, 13. Oktober 2006
EC Dresden-Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 629-650 jochenheißtschonwer, 13.10.06, 23:35
Ein Personenschaden in Berlin, also war Südbahnhof doch die falsche Entscheidung gewesen, ich muß wieder hoch zum Hauptbahnhof, um von dort nach Dresden zu fahren, allerdings mit 1 h Verspätung, was ich erfahre, nachdem ich am Hauptbahnhof im Laufschritt von Gleis zu Gleis geirrt bin, um das richtige zu finden. Hauptbahnhof... für mich immer noch Lehrter Bahnhof, nachdem der jetzige Ostbahnhof in den 80ern in Hauptbahnhof umbenannt worden war - weil das wohl weniger nach Osten klang-, und ich mich schon nicht daran gewöhnen konnte, daß er jetzt wieder Ostbahnhof heißt, soll ich mich darauf einstellen, daß der Hauptbahnhof jetzt ganz woanders ist. Das sind zuviele Reformen für ein junges Leben. Am Hauptbahnhof grüßt eine riesige Schrift: "BOMBARDIER Willkommen in Berlin!" und ich muß denken, daß sie damit auch über 60 Jahre zu spät kommen. In Berlin ein Personenschaden, und in Dresden ein Selbstmörder mit Auto, der uns zusätzliche 80 Minuten Verspätung bringt. Irgendwann werden sie aus allen Richtungen auf mich einprasseln, um mich an meiner Arbeit zu hindern. Im Abteil saß mit mir ein deutsch-französisches Pärchen, sie las ein Buch: "Comment s'orienter?" Die beiden waren unterwegs ins Elbsandsteingebirge, und sie wollte ihrem Freund etwas erzählen, aber ihr fiel das deutsche Wort für "grotte" nicht ein, sie konnte ja nicht wissen, daß sie auch Grotte sagen konnte. Ich hätte mich fast eingemischt, weil beide so lange herumrieten, was sie wohl meinte, aber ich habe immer Angst, die Autorität der Männer zu untergraben, wenn ich vor den Augen ihrer Frauen etwas besser kann. Eigentlich meinte sie ja auch Boofen, aber wenn ich ihr das verraten hätte, hätte sie ihn vielleicht gleich für mich sitzen lassen. In Dresden-Neustadt muß ich immer an diese Sachsen denken, die uns vor der Wende in Prag von Neustadt vorgeschwärmt haben, da sei "die Szene", und man könne immer Bier trinken. Ich bin dann einmal auf einer Klassenfahrt nach Dresden mit einem Mitschüler nach Neustadt ausgebüchst, wir stiegen aus der Straßenbahn und waren ratlos, wir wußten nicht, wonach wir suchten. Eine Lesung in der "Scheune". Das Mädchen vom Buchstand hatte Soziologie studiert, aber ihren Lieblingssoziologen kannte ich gar nicht, und mit Luhmann konnte ich nicht punkten, denn sie war spezialisiert auf "Mikrosoziologie", einen Teil der Soziologie, der sich, wie ich inzwischen nachrecherchiert habe, mit "grundlegenden Feinstrukturen im zwischenmenschlichen Verhalten befasst", und damit, wie "Interaktionen in sozialen Beziehungen aus kleinsten Verhaltensandeutungen entstehen". Bei mir verhindern kleinste Verhaltensandeutungen ja immer Interaktionen, so auch diesmal, wo ich aus der unkomplizierten Art, wie sie sich mir freundlich zuwandte, schloß, daß sie mich als Mann nicht ernst nahm und den Rückzug antrat. Nach Lesungen ist es immer so schwer, mit Zuschauern zu reden, sie helfen einem aber auch kein bißchen. Mit dem einen kamen wir erst ganz zum Ende darauf, daß er eine Kristallographie-Ausbildung machte, da hatten wir, als es eigentlich schon zu spät war, doch noch ein Thema, denn ich hatte doch im ESP-Unterricht in Adlershof auch immer Siliziumscheiben polieren und unterm Mikroskop Störstellen zählen müssen. Die heißen natürlich "Versatzstellen", das Wort hatte ich seit damals nicht mehr gehört, und ich hätte fast die Gelegenheit verpaßt, es mir wieder anzueignen, nur weil er wieder so eine Schnitzeljagd nach einem gemeinsamen Thema veranstalten mußte! Warum stellt sich nicht jeder, der mit einem spricht (nachdem man gerade seitenlang von sich selbst berichtet hat), erst einmal vernünftig vor: Name, Alter, Ausbildungsstand, Hobbies. Wieviel Zeit verschwendet man damit, den Leuten das mühsam aus der Nase zu ziehen. Am nächsten Morgen wurde schon wieder über einen Literaturnobelpreis berichtet, damit wollen sie einen wohl etwas unsensibel darauf hinweisen, daß man wieder ein Jahr älter ist. Was so ein Preis für die Arbeit bedeuten muß, kann ich mir seit gestern vorstellen, als in der Taz ein sehr schöner und sachlicher Artikel über dieses Blog erschienen ist. Ich konnte mich danach nicht mehr konzentrieren, weil mir der Leistungsdruck zu groß geworden war. Es fühlte sich an, als würde ich diesen Text direkt in die Gehirne der ganzen Menschheit tippen, da überlegt man sich, was man schreibt. Bei der Abfahrt aus Dresden unterhielten sich mehrere Fahrgäste in Zeichensprache mit ihren auf dem Bahnsteig stehenden Angehörigen. Als ich das sah, wurde mir plötzlich klar, wie ich das Gefühl beschreiben kann, das ich immer habe, wenn ich mit mir fremden Frauen rede, denn was ich dann sage, kommt mir immer vor, wie das die Gesten seiner Zeichensprache untermalende Lallen eines Gehörlosen. Vielleicht sollte ich es machen, wie der Mann aus der Bahnzeitung, der angeblich 9 Minuten tauchen kann, ohne Luft zu holen, was ihm gelingt, weil er sich darauf konzentriert, seine Herzschläge zu verlangsamen und jede überflüssige Bewegungen zu vermeiden. Manchmal bewege er sich so sparsam, daß es sich für ihn anfühle, als gleite er nur noch "durch seine mentale Kraft" vorwärts. Wenn ich es erst einmal schaffe, 9 Minuten ohne Luft zu holen unter Wasser zu bleiben, wäre das bestimmt ein erster Schritt dahin, mich einmal 9 Minuten mit einer Fremden unterhalten zu können, ohne zu lallen. III Seite 629-650 Der Fürst "Von" aus Deutschland versteht "Archäologie" im Französischen nicht auszusprechen und spricht es mit "sch", statt mit "k", benutzt das Wort aber dafür umso lieber: "Ich möchte den Kaiser [..] mit einem alten Arschäologen vergleichen, den wir in Berlin hatten. Vor den alten assyrischen Bildwerken fängt der alte Arschäologe stets zu weinen an. Ist aber eines eine modernere Fälschung, also nicht wirklich antik, weint er eben auch nicht. Will man also wissen, ob ein antikes Stück wirklich antik ist, so bringt man es zu dem alten Arschäologen. Weint er, so wird das Stück für das Museum aufgekauft. Bleiben seine Augen trocken, so schickt man es dem Händler zurück und verklagt ihn als Fälscher." So ein simples Bewertungsprinzip für die Qualität seiner Filme hat ja auch Russ Meyer zum Erfolg verholfen, allerdings ging es bei ihm nicht um Tränen, sondern um bestimmte Reflexe. Drehen sich die Gespräche um Politik und insbesondere europäische Allianzen, heißt es: "Ich horchte kaum auf diese Geschichten, sie waren von der Art, wie Monsieur de Norpois sie meinem Vater erzählte: den Träumereien, die ich liebte, lieferten sie keine Nahrung; und hätten sie im übrigen hundertfach die Verführung besessen, die ihnen abging, so hätten sie schon sehr anregend sein müssen, um während dieser in der großen Gesellschaft verbrachten Stunden, in denen ich nur mit meiner Epidermis, meinem wohlfrisierten Haar und meiner Hemdbrust lebte, in denen ich nichts von dem empfinden konnte, was für mich die wahren Genüsse des Daseins bildeten, mein inneres Leben zu wecken." Genealogiegespräche sind schon auf normalen Familientreffen ermüdend, aber noch schlimmer ist es beim Adel, wo ja jeder mit jedem verwandt ist. Und da die dokumentierte Geschichte dieser Familien weiter zurückreicht, als die bürgerlicher Familien, müßte man schon ein Historiker sein, um seine eigenen Vorfahren richtig einzuordnen: "- Aber sind sie nicht sogar so etwas wie Vetter und Kusine? fragte der General von Saint-Joseph. Es scheint mir doch, als habe ein Norpois eine La Rochefoucauld geheiratet?
Selbst für Marcel ist das ein bißchen viel: "Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich an diesem Abend die Worte Vetter und Kusine hörte." Weil der Herzog bei fast jedem Namen, der ausgesprochen wird "Aber das ist ja ein Vetter von Oriane!" ruft, und wenn kein Vetter, dann eine Kusine. Bis hierher hat er ja tapfer durchgehalten, auch wenn man für die Verlesung dieses Protokolls von einem Salonbesuch, der kaum drei Stunden gedauert haben dürfte, nach meinen Berechnungen ca. 6 h brauchen müßte. Aber so kurz vor Schluß bekennt er Farbe, es ist nicht nur für uns über weite Strecken eine Qual gewesen: "Jeder der Gäste bei dem Abendessen, der den geheimnisvollen Namen, unter dem ich ihn aus der Entfernung einzig gesehen und erträumt hatte, mit einem Leib und einer Intelligenz umhüllte, die gleich oder sogar weniger gut waren als diejenigen aller der Personen, die ich kannte, hatten mir den Eindruck so platter Gewöhnlichkeit gemacht wie die Einfahrt des dänischen Hafens Helsingör auf den fieberhaft gespannten Hamlet-Leser." Aber so ganz dann doch wieder nicht: "In ihren Gesprächen über diesen Gegenstand suchte ich ein rein poetisches Vergnügen. Ohne es selbst zu kennen, verschafften sie es mir, so wie es Landarbeiter oder Seeleute getan hätten, wenn sie von Ackerbau oder der Hochsee sprachen, das heißt von Wirklichkeiten, mit denen sie selbst zu nah verbunden sind, um die Schönheit zu sehen, welche ich meinerseits darin zu entdecken bemüht war." Denn jeder dieser Namen steht für ein Stück altes Frankreich: "Allmählich bedeckten sich die Räume meines Gedächtnisses in dieser Weise mit Namen, die sich ordneten und zusammenfügten in Beziehung zu anderen und untereinander immer zahlreichere Verknüpfungen eingingen, so daß sie jene vollendeten Kunstwerke nachahmten, in denen kein einziges Tüpfelchen nur für sich besteht, sondern jeder Teil abwechselnd von den anderen her seinen Daseinsgrund erhält wie er andererseits den ihrigen bestimmt." Schließlich deutet die Frau des türkischen Gesandten, von der es heißt: "Es wäre unmöglich gewesen, sie auf einer Unkenntnis über die neuesten deutschen Arbeiten zu ertappen, mochten sie nun von Volkswirtschaft, Geisteskrankheiten, den verschiedensten Formen der Onanie oder von der Philosophie Epikurs handeln", an, der Herzog bevorzuge Jungen statt Mädchen. Ähnliche Hinweise gab es auch schon über Charlus, den Marcel ja im Anschluß gegen 11 Uhr besuchen soll. Man möchte ihn als Leser fast persönlich daran erinnern, daß es höchste Zeit ist, dorthin aufzubrechen, denn von Charlus können wir nicht genug bekommen. Verlorene Praxis: - Seinem Neffen seinen "kleinen Neger" überlassen.
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