Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 12. Oktober 2006
Berlin - III Die Welt der Guermantes - III Seite 608-629 jochenheißtschonwer, 12.10.06, 15:48
Hätte ich heute die Zeitung nicht gelesen, ich hätte nie erfahren, daß das "Gesetz zur Anpassung schuldrechtlicher Nutzungsverhältnisse an Grundstücken im Beitrittsgebiet" ausläuft, das wäre peinlich geworden, wenn ich wieder als einziger nichts davon mitbekommen hätte. In Bayern hat ein Gesundheitsminister namens Schnappauf "neue Gammelfleischfunde gemacht", und die Koalition diskutiert über eine "Überforderungsklausel", für die ich mir natürlich ein breites Anwendungsfeld wünsche. Nora Tschirner und Till Schweiger setzen sich für Organspenden ein (und man muß sofort an eine elegante Entsorgungsmöglichkeit für solche Gestalten, wie sie, denken.) Aber am meisten hat es mich überrascht, zu erfahren, daß man "die legendäre Chefredakteurin der Vogue" nicht ansprechen dürfe, wenn man ihr im Aufzug des Condé-Nast-Buildings in New York begegne (ein Fall für meine Liste "Nutzloses Wissen", das ja nie nutzlos ist, man kann sich leicht einen Katastrophenfilm denken, in dessen spannendster Szene genau diese Information die Menschheit vor dem Untergang rettet.) Zum Glück lese ich nur einmal in der Woche Zeitung, das einzige, was man dadurch verpaßt, sind die Todesmeldungen, aber manchmal hat man sie auch gar nicht verpaßt, sondern Erwin Geschonneck lebt noch und wird demnächst 100. Das schönste am Zeitunglesen ist der Moment, wenn man das Blatt wieder weglegt, einfach nur aus dem Fenster vom Café guckt und sich klar macht, wie gut es einem geht. Ist es eigentlich unter meinem Niveau, ganz behutsam in mir nach der Lust auf den Tag oder auch nur die nächsten Stunden zu forschen? Ich fand positiv Denken immer beleidigend, ich wollte meine Komplexitäten nicht zu seelischem Müll degradiert sehen, aber es ist natürlich auch etwas dran, daß man sich darin üben kann, sein Glück zu erkennen. Ich werde z.B. nie wieder so nah an einer Dialysestation wohnen, wie im Moment, jeder andere wäre froh. Durchs Fenster des Cafés auf Berlin zu gucken erzeugt leider keinen Nervenkitzel mehr, man ist eben nicht in New York. Gestern hat Lou Reed im Radio gesagt, New York sei seine DNA, dann ist Berlin mein eingewachsener Zehnagel. In New York ist immer was los, gestern ist dort eine kleine Passagiermaschine in ein Wohngebäude gestürzt, in der "Upper east side", wie es so schön heißt, und die ganze Welt weiß sofort, wo wir uns befinden. Bei uns schlagen nie Flugzeuge ein, denkt man, und wenn, dann würde es sicher ganz langweilig aussehen. In der "Upper east side" habe ich damals auch eine Woche zur Untermiete gewohnt, der Doorman hatte meinen Namen falsch verstanden und mich immer "Mr. Schumacher" genannt, vielleicht machte er das bei allen Deutschen so. Ich schlief im Kinderzimmer des Sohns der Vermieterin, der inzwischen Film studierte und dafür seine Militärfahrzeugmodellsammlung nicht mehr brauchte. Es war eigenartig, in New York so etwas normales zu machen, wie Gemüsereste aus dem Ausguß zu pulen, während der Blick aus dem Fenster auf unwirklich schmale und sagenhaft schöne Hochhäuser fiel. Ob man sich auch an so einen berauschenden Anblick irgendwann gewöhnen würde, wie an den der Fassade der Schönhauser Allee Arkaden? Seltsam fand ich, wie alt und verbraucht die Installationen im Bad wirkten, ich hatte immer gedacht, der ganze Westen sei so makellos, wie das, was sie uns seit der Wende überall hinsetzten. In Berlin werde ich diese Empfindungslosigkeit nicht mehr los, dabei ist es meine Heimat. Aber ist die Freude am Leben überhaupt noch zu trennen von dem Moment, wenn man einen Gedanken oder sogar eine Textidee hat? Das wäre doch für einen Autor verdächtig. Meine Tochter freut sich aber noch, wenn im Radio "Berlin" gesagt wird, und sie wiederholt das Wort dann eine halbe Stunde. "Berliner Zeitung, was isn das?" Gute Frage. Und "Acht acht acht", wenn der Radiosender seine Telefonnummer ansagt, ich hoffe, das hört irgendwann auf, wenn sie auch den Rest der Wörter versteht. Ob sie schon weiß, was der Unterschied zwischen einer Stadt und einer anderen ist? Ich dachte ja noch in der vierten Klasse, die Moskauer Metro verbinde alle Städte der Sowjetunion miteinander. Es ist seltsam, ungewollt in die Rolle eines Feldwebels zu verfallen, wenn man morgens jemanden zu jeder Bewegung antreiben muß, als würde man an einem Knetfigurenanimationsfilm arbeiten und müßte die Figur Einstellung für Einstellung modellieren. Und das, während ich mich frage, ob es meine Schuld ist, daß sie wieder eingepullert hat. Aber noch sind wir ja in der Phase unserer Beziehung, wo ich wahrscheinlich sowieso an allem schuld bin. Meine Rache war dann die Frage an sie, wie die Kacke in den Po gekommen ist - die gerade rausgekommen war, als wir losgehen wollten-, daran wird sie eine Weile zu knabbern haben. III Seite 608-629 "Die Herzogin aber behandelte ihren Mann mit jener Art Kühnheit, welche Dompteure oder Menschen, die mit einem Verrückten zusammenleben und nicht fürchten, ihn zu reizen, in sich zu entwickeln pflegen..." Besser ist die Art, wie sich bestimmte Ehepartner in der Öffentlichkeit einander gegenüber verhalten, nie beschrieben worden. Die Herzogin ist aber auch sonst ein unterhaltsames Schandmaul. Über Saint-Loup sagt sie: "Er wäre nicht einfältiger als irgendein anderer, wenn er wie so viele Leute von Welt den Verstand besäße, einfach dumm zu bleiben. Nur dieser Anstrich von Wissen ist fürchterlich." Und außerdem mache er in seinen Briefen Tintenkleckse. Und über die verstorbene Kaiserin von Österreich (also unsere Sissi...): "Ich habe niemals begriffen, weshalb sie sich nicht ein gutsitzendes Gebiß gekauft hat, ihres ging immer los, bevor sie ihre Sätze beendet hatte, sie mußte sich unterbrechen, um es zu verschlucken." Marcel ist aber auch kein leicht zufriedenzustellender Gast. Obwohl es im Sommer bei der Madame traditionell immer nur Orangeade gibt, gelingt es ihm noch eine Karaffe mit Kirsch- oder Birnensaft zu erhalten: "Ich hegte feindselige Gefühle gegen den Fürsten von Agrigent, weil er, wie alle Leute, denen es an Phantasie, doch nicht an Begehrlichkeit fehlt, bewundernd betrachtete, was ich da trank, und um die Erlaubnis bat, auch davon zu kosten. Auf diese Weise verminderte der Fürst von Agrigent jedesmal meine Ration und verdarb mir die Freude daran. Denn dieser Fruchtsaft ist niemals in genügend großer Menge vorhanden, um den Durst zu stillen." Hier fühle ich mich ihm zum ersten mal richtig nahe, nichts ist so lästig, wie Fürsten, die bewundernd betrachten, was man da trinkt. Ich kenne jemanden, der sein Getränk sogar doppelt genießt, wenn er damit Begehrlichkeiten anderer weckt. Freude daran zu empfinden, anderen etwas abzugeben, muß eine sehr komplexe Bewußtseinsstufe sein, jedenfalls hat man sie mit drei Jahren noch nicht erreicht. Nachdem vom Herzog Elstirs Spargelbund so schnöde verachtet wurde, erklärt die Herzogin, wie sehr sie die Bilder von Frans Hals bewundert: "Ich möchte sagen, daß jemand, der sie nur von der oberen Plattform einer Straßenbahn aus, ohne anzuhalten, im Freien ausgestellt sähe, noch vor Staunen die Augen aufreißen würde." Ein interessanter Gedanke, man sollte die Erzeugnisse der modernen Kunst generell auf schnellen Fahrzeugen an den Betrachtern vorbeirasen lassen. Für Marcel ist die Idee allerdings inakzeptabel: "Diese Wendung schockierte mich als vollkommene Verkennung der Art und Weise, wie sich künstlerische Eindrücke bilden, denn sie schien vorauszusetzen, daß unser Auge nur ein einfacher Registrierapparat sei, der Momentaufnahmen macht." Aber vielleicht ist es ja genau so. Unklares Inventar: - Ein Sessel mit Wedgewood-Inkrustationen.
Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Die Prinzessin von Parma, die noch nicht einmal den Namen des Malers gehört hatte, machte heftige Kopfbewegungen und lächelte mit aller Leidenschaft, um ihre Bewunderung für das Bild zu bekunden. Doch die Ausdruckskraft ihrer Mimik konnte schließlich nicht das Aufglimmen ersetzen, das unseren Augen fernbleibt, solange wir nicht wissen, wovon man zu uns spricht."
Verlorene Praxis: - Einen köstlichen Château-Yquem trinken und sich an den Schnepfen delektieren, die nach verschiedenen, vom Hausherrn verfeinerten Rezepten zubereitet wurden.
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