Schmidt liest Proust |
Freitag, 22. September 2006
Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 190-210 jochenheißtschonwer, 22.09.06, 22:40
Es war noch warm, man konnte am Nachmittag auf dem Balkon sitzen und die Kondensstreifen am Himmel zählen. Gleichzeitig vier Striche war mein Rekord, aus großer Entfernung schienen sie auf denselben Punkt weit im Norden zuzulaufen, als hätten die Flugzeuge am Nordpol ihr Nest. Im Dachfirst des Nachbarhauses leben Wespen, sie steuern geschickt das kleine Loch zwischen Holz und Dachpappe an, bremsen ab und schlüpfen hinein. Jede Wespe hat das irgendwann einmal lernen müssen, aber sie hat es sicher nicht als anstrengend empfunden. Es gibt auch keine besonders talentierte Wespe unter ihnen, jedenfalls würde ihr Talent ihr keine Vorteile bringen. Sie würde vielleicht nur etwas öfter fliegen können und dadurch etwas mehr arbeiten müssen. Abends brüllen sich die Obdachlosen auf dem Platz vor meinem Haus wieder an, ihre Stimmen klingen sehr energisch, sie können gar nicht mehr normal reden. Vielleicht würden Besucher fremder Galaxien sie für unsere Anführer halten, weil sie so laut sind, von allen Arbeiten entbunden wurden und sich abends nicht hinter dicken Türen einsperren müssen. Ich frage mich immer, was einen am Leben hält, wenn man auf der Straße leben muß. Es muß eine Art Selbsterhaltungstrieb geben, den ich nicht habe. Im Bio-Laden lag das Prospekt einer "Kinesiologischen Emotionalbalance", eine Frau, die mir mit Engelenergien helfen will, meinem Seelenpotential näher zu kommen, für 50 Euro die Stunde. "Hinter Ihren körperlichen und emotionalen Blockaden verbergen sich unverarbeitete, emotionale Verletzungen Ihrer Seele. Ihr Unterbewußtsein bzw. Inneres Kind hat die Gefühlserinnerung an diese schmerzhafte Erfahrung verdrängt. Immer wenn Sie in der Gegenwart mit ähnlichem, emotionalem Schmerz konfrontiert werden, macht sich das Schmerzmuster der Vergangenheit wieder bemerkbar und Sie leiden." Mit ihrer medialen Begabung will sie mir helfen, mein Karma zu finden, "die Lernaufgabe, die sich unsere Seele in diesem Leben gestellt hat." Erwachsen zu werden bedeutet vielleicht, sein Inneres Kind in Ruhe zu lassen und allen Gefühlserinnerungen, die mit emotionalem Schmerz konfrontieren, aus dem Weg zu gehen. Das Gegenteil davon ist sicher Schreiben, eine gefährliche Tätigkeit, vor der man warnen müßte. Seite 190-210 Was liegt Saint-Loup an dieser Rahel? In seinen lichten Momenten weiß er ja, daß er sie idealisiert. Aber "seine Verbindung mit Rahel kam ihm wie die Erforschung eines fremden Lebens vor". Denn Paris verwandelt sich, wenn man eine neue Frau kennengelernt hat, die dort lebt. Für Marcel heißt es: ein Abend zu dritt, da macht man was mit. "Es stimmte übrigens, daß sie 'literarisch gebildet' war. Sie unterbrach sich in ihren Ausführungen über Bücher, moderne Kunst und Tolstoi nur, um Saint-Loup Vorwürfe zu machen, er trinke zuviel Wein." Die beiden schaukeln sich allerdings auch sehr leicht hoch. Saint-Loup ist eifersüchtig auf jeden anderen Mann im Raum, und Rahel gibt seiner schlechten Laune auch noch Nahrung, weil "sie vor allem aus törichter Eigenliebe, durch seinen Ton verletzt, nicht den Anschein erwecken wollte, als liege ihr daran, ihn wieder freundlich zu stimmen..." Eine Charaktereigenschaft bei jungen Mädchen, die einen davor warnen sollte, sich mit ihnen abzugeben. Warum hört Saint-Loup nicht auf seine Vernunft? Man ahnt es: "Sie war beim Essen mit ihren Händen so ungeschickt, daß man auf die Vermutung kam, sie müsse auf der Bühne überaus hilflos sein. Geschicklichkeit brachte sie nur in der Liebe auf infolge jenes rührenden Ahnungsvermögens von Frauen, die den Körper des Mannes so sehr lieben, daß sie von vornherein erraten, was diesem von dem ihren so ganz verschiedenen Leib Genuß bereiten kann." Das Essen endet damit, daß Saint-Loup wegen einer Eifersuchtsattacke den Tisch verläßt (wie sagte sie doch über einen jungen Mann am Nebentisch: "Mir gefällt er aber sehr, und zwar, weil er bezaubernde Augen hat und die Frauen auf eine Weise ansieht, daß man gleich merkt, er hat Verständnis für sie.") Aber im damaligen Frankreich gab es für zornige Männer noch eine Alternative zum pathetischen Aufbruch, denn wenig später läßt Saint-Loup ihr ausrichten, er sei in einem Séparée des Restaurants "um sein Dejeuner zu beenden". Dorthin folgt sie ihm, und als Marcel zu den beiden stößt, findet er Rahel "lachend unter den Küssen und Liebkosungen, mit denen er sie überschüttete." Marcel langweilt sich dabei natürlich etwas, bis er sich auf Champagner verlegt. Er bekommt wieder seinen Rivebelle-Rausch, im Spiegel findet er sich zwar "häßlich und fremd", prostet sich aber übermütig zu. Wir werden in Zukunft ein Auge darauf haben, wenn er von Spiegeln spricht, schließlich verbirgt sich hier immer das Narziß-Motiv. Dann geht es ins Theater zu Rahels Auftritt. Auf der Bühne hat ihr Gesicht Wirkung, aber: "Stand man dicht neben ihr, sah man nur einen Nebelfleck, etwas wie eine mit rötlichen Tupfen und winzigen Pickeln übersäte Milchstraße, sonst nichts." Man könnte behaupten, der Autor meint es nicht gut mit seinen Figuren, sie so unvorteilhaft ins Licht seiner Prosa zu rücken. Saint-Loup ficht das nicht an, er hatte sie ja zum ersten mal auf der Bühne erblickt und aus der Distanz bewundert. Der Abgrund zwischen Bühne und Zuschauerraum scheint ihr eine Dimension hinzugefügt zu haben. So ist es ja mit allen beruflich bedingten Distanz-Situationen, was Krankenschwestern, Polizistinnen, Lehrerinnen und Kellnerinnen für viele so erotisch macht. Draußen mißfallen zwar auch Saint-Loup ihre Sommersprossen und Hautunreinheiten, und er spürt nicht mehr die gleiche Macht, wie im Theater, von ihrem Anblick zu träumen: "Aber obwohl er diesen nicht mehr haben konnte, bestimmte sie doch auch weiterhin seine Handlungen, so wie es die Gestirne tun, die uns durch ihre Anziehung sogar während jener Stunden beherrschen, da sie uns nicht sichtbar sind." Das heißt, ihre Ausstrahlung bleibt ihr auch erhalten, wenn sie aus der Rolle tritt. Das muß natürlich beruhigend für alle Popstars sein, die in der Angst leben, ihre Verehrerinnen aus der Nähe mit Hautunreinheiten zu enttäuschen. Für Saint-Loup war es damals schon längst zu spät, er war verliebt: "Das Bedürfnis zu träumen, das Verlangen glücklich zu sein durch die, von der man geträumt hatte, führen dazu, daß nicht viel Zeit nötig ist, damit man alle seine Glückschancen in die Hand derjenigen legt, die ein paar Tage zuvor noch eine unbekannte und gleichgültige Zufallserscheinung auf der Bühne war." Noch ein typisches Verhaltensmuster: "Als wir nach Fallen des Vorhangs die Bühne betraten, wollte ich, befangen durch die Tatsache, daß wir uns hier befanden, ein lebhaftes Gespräch mit Robert in Szene setzen; auf diese Weise werde, dachte ich, meine Haltung, die ich in dieser für mich neuen Umgebung nur mühsam zu finden wußte, völlig durch unser Gespräch bestimmt sein; man werde meinen, ich sei dadurch so absorbiert und allem andern gegenüber so zerstreut, daß man nur natürlich fände, wenn ich nicht genau den Gesichtsausdruck annähme, den ich an einer Stätte hätte zeigen sollen. Es würde so aussehen, als ob ich, ganz den Dingen, die ich sagte, zugewandt, mich hier gar nicht mit vollem Bewußtsein aufzuhalten schien. In der Eile griff ich das erste beste Thema auf..." Oft hat man das an sich selbst oder an Bekannten beobachtet, auf Partys, in der Disko, oder überhaupt in der Öffentlichkeit, überall, wo man nicht genau den Gesichtsausdruck kannte, den man "an einer Stätte hätte zeigen sollen". Dann nimmt es der Sache die Peinlichkeit, wenn man so wirkt, als sei man in ein Gespräch vertieft. Zur Not muß man sein Handy benutzen und so tun, als hätte man einen Anruf bekommen. Man kann auch eine SMS schreiben. Mit einem Jojo zu spielen, hilft dagegen nicht. Verlorene Praxis: - Mit Händen und Füßen Zeichen geben, daß man mit seiner Nervenkraft am Ende ist.
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