Schmidt liest Proust |
Sonntag, 17. September 2006
Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 88-108 jochenheißtschonwer, 17.09.06, 20:22
Mehr und mehr wird Prosa für mich zum Problem, weil ich keine langen Sätze mehr formulieren kann, ohne mittendrin zu ermüden. Die drei Punkte sind zu meinem wichtigsten Satzzeichen geworden, die Aufforderung an den Leser, sich den Rest selbst zu denken. Eigentlich müßte es für mich noch ein anderes Satzzeichen geben, nämlich zwei Punkte, die ich dann benutzen könnte, wenn mir die Kraft fehlt, drei Punkte zu setzen.. Seite 88-108 Mehr zum Gehör. Für die Geräuschempfindlichen ist der Taube ein Liebling der Götter. Wie aus dem Nichts herbeigezaubert tauchen in seinem Zimmer Besucher auf. Will er die Milch nicht überkochen lassen, muß er das faszinierende Schauspiel beobachten, statt sich auf sein Gehör zu verlassen. Ständig bewegen sich Gegenstände geräuschlos, und dadurch anscheinend ohne Ursache, an ihm vorbei. "Ein derart völlig Ertaubter aber ergeht sich, da der Verlust eines Sinnes der Welt ebensoviel Schönheit hinzufügt wie seine Wiedererlangung, jetzt auf einer fast paradiesischen Erde, auf der der Klang noch nicht erschaffen ist." Und damit auch nicht das pfeifende Geräusch, das gestern den ganzen Tag über den Platz vor meinem Fenster erfüllt hat, als hätte jemand mit seinem batteriebetriebenen Zahnarztbohrer aus der Hausapotheke Muster in den Asphalt gefräst. Zen-Buddhisten können angeblich sogar den Klang rotierender Hubschrauberpropeller aus ihrem Bewußtsein ausblenden, aber warum soll man 20 Jahre meditieren, wenn man mit einem gezielten Schuß dasselbe erreichen könnte? Der Rittmeister erlaubt Marcel eine Nacht auf Saint-Loups Stube zu schlafen und Marcel perlen deshalb gleichzeitig Schweißtropfen auf der Stirn und Tränen aus den Augen. Der Gedanke, in der Garnison zu übernachten, ist ihm sofort sympathisch: "...welche von allen Kümmernissen freie Ruhe hätte ich hier gehabt, von jener Atmosphäre der Stille, der Wachsamkeit und Munterkeit beschützt, die von tausend geregelten und ruhigen Einzelwillen, tausend sorglosen Gemütern in dieser großen Gemeinschaft unterhalten wird, in der, da die Zeit hier die Form der Tätigkeit annimmt, den melancholischen Stundenschlag die gleichen fröhlichen Fanfarenstöße ersetzen, deren Klangerinnerung auf Straßen und Plätzen der Stadt in kleinen und kleinsten Tongebilden stets gegenwärtig bleibt; eine Stimme, die nie vergebens verhallt, in der Musik lebt, weil sie nicht nur ein autoritativer Appell an den Gehorsam, sondern auch Ausdruck weisen Sichfügens, gleichbedeutend mit Glücklichsein ist." Solche Vorstellungen müssen wohl auch meiner Bereitschaft zugrunde gelegen haben, im November 1989, statt mich für eine Zeit zu ducken, dem Einberufungsbefehl zu Folge zu leisten. Eine "von allen Kümmernissen freie Ruhe" und "eine Atmosphäre der Stille, der Wachsamkeit und Munterkeit" hatte man uns versprochen, und es war klar, daß wir eine Welt betreten würden, in der weises Sichfügen die Voraussetzung für Glücklichsein war. Still war es dann tatsächlich, wenn man sich nachts beim Wachdienst zum Sekundenschlaf heimlich im Stehen mit der Stirn gegen eine Munitionsbaracke lehnte, das Käppi als Polster verwendend, während hinter dem Zaun, gut vor uns geschützt, lautlos ein Land zusammenbrach. In der nächsten Nacht schon muß Marcel aber doch noch ins Hotel: "Ich wußte im voraus, daß mich unweigerlich dort Trauer erwartete." Es kommt dann aber gar nicht so schlimm, denn das Hotel war früher ein Palais gewesen, wovon "ein Überschuß an Luxus" geblieben ist. Korridore mit salonartigen Vorplätzen "die eher wirkten, als wohnten sie dort selbst, anstatt daß sie einen Teil fremden Wohnraums bildeten..." Die Wandbespannung im Zimmer "ließ gleichzeitig eine Stille mit ein, über die ich mich mit einem Gefühl des Rausches ganz als Herrscher fühlte..." Ja, es wäre schön, wenn es Geräte gäbe, die Stille erzeugen, statt solcher, die Stille zerstören. Erwägungen über den Schlaf folgen, diesen "wohltuenden Anfall von Geistesverwirrung", in den man einem Menschen folgen muß, will man sein Leben richtig beschreiben. Das Aussetzen der Logik in den Grübeleien, die den Versuch, einzuschlafen, begleiten. Der Schlafbereite begrüßt es freudig, weil er durch dieses Tor der Wirklichkeit entrinnen kann. Es gibt:
Morgens ergießt sich über Marcels Dasein eine große Traurigkeit, und er schickt nach Saint-Loup, der gerne kommt, und ihn wieder wie ein Arzt beruhigt: "Das Leben schien mir mit einem Male ganz anders und sehr schön, und ich war von solchem Überschwang erfüllt, daß ich handeln wollte." Das ist immer ein verdächtiges Bedürfnis, das einen nur im Überschwang packen kann, oder wenn man verliebt ist. Man sollte dann keine Handarbeiten oder Basteleien beginnen, die sich, für den Fall, daß die Liebe sich als nicht dauerhaft genug erweist, nicht wieder aufdröseln oder zerlegen lassen. Er läßt sich nun tagsüber von Saint-Loup und seinen Kameraden in militärische Theorien einweihen und sinkt nachts in tiefen Schlaf, was für ihn allerdings eine Form von Arbeit und Selbsterkenntnis ist. Manche denken ja, man müsse seine Kindheitsorte aufsuchen, um das Gewesene in sich wiederzufinden: "Doch sind dies höchst gewagte Pilgerfahrten, in deren Verfolg man mehr Enttäuschung als Erfüllung erlebt. Jene festverankerten Stätten, die Zeugen der verschiedenen Jahre gewesen sind, finden wir besser in uns selbst." Und dabei hilft es, wenn einen die Nacht "in die alleruntersten Stollen des Schlafes hinunterführt..." Ich kann gar nicht sagen, wie sympathisch es mir ist, wenn ein großer Autor hier einmal eine Lanze für den Schlaf bricht. Man steht ja heute immer noch im Verdacht, ein Faulenzer zu sein, wenn man viel schläft, und wenn man sich gar zum Mittagsschlaf bekennt, gilt man in den Augen der meisten schon als Rentner. Dabei ist wach zu sein nur ein Teil meines Aufgabenfelds als Autor, schlafen ist der andere. Im Grunde erhole ich mich ja am Tag von dem, was mit meinem Bewußtsein nachts passiert. Man gilt zwar als tot, wenn man nicht mehr aufwacht, und nicht, wenn man nicht mehr einschläft, aber das ist nur eine Frage der Perspektive. Unklares Inventar: - Zinerarien. Verlorene Praxis: - Sich morgens von seinem Burschen eine Schokolade bereiten lassen.
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