Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 14. September 2006
Berlin, Sonne, leichter Schnupfen, beginnende Halsschmerzen. Am linken Knie jucken zwei verschorfte Schürfwunden vom Fußball - III Die Welt der Guermantes S.28-48 jochenheißtschonwer, 14.09.06, 16:26
Proust hat angeblich gelbe Lederhandschuhe getragen, um sich daran zu hindern, beim Schreiben an seinen Fingernägeln zu kauen. Dann müßte ich mir eine Ledermaske übers Gesicht stülpen, wie Hannibal Lecter, weil ich mir immer die Haare aus den Koteletten reiße, immer öfter graue. Lesen ist eine Tätigkeit, die den Körper abschaffen will, er wehrt sich, wie ein hyperaktives Kind, es gibt eigentlich keine Sekunde, in der man ganz stillhält. Wenn ich mich beobachte, dann erwische ich mich beim Nase bohren, Bizeps befühlen, Finger knacken, ich gleite mir ständig mit dem Bleistift übers Gesicht, wie mit einem Rasierapparat. Und auch nach 35 Jahren ist es für mich noch spannend, mein Gesicht zu befühlen. Je mehr man sich konzentrieren will, umso stärker lenken einen die Umstände ab. Man kann in lauten Bars lesen, oder in Flughafenlobbies, es ist überall möglich, sich zu konzentrieren, aber zu Hause, wo es still ist und einen nichts stört, hört man plötzlich Geräusche, auf die man nie geachtet hat. Je kleiner die Ursache, um so schwerer ist sie zu ignorieren, ein unregelmäßiges Knacken des Holzschranks z.B. versetzt einen in so aufgeregte Erwartung des nächsten Knackens, daß man immer wieder aus dem Text kommt. Ich bin auch sicher, daß man viele Geräusche, die unterhalb der Reizschwelle liegen, trotzdem wahrnimmt, bis hin zu Radiowellen. Ich bin da völlig einverstanden mit John Cage, weshalb ich kaum noch Musik höre, sondern mich, um mich in dieselbe Stimmung zu versetzen, wie früher durch Musik, einfach auf die Geräusche konzentriere, die es so schon gibt. Die Leistung, die Klänge eines Klaviers als wohltuend zu empfinden, erbringt ja mein Bewußtsein, es kann also das gleiche auch mit der Tröte vom Eisauto tun. Mein Lieblingsplatz zum Lesen ist zur Zeit mein Bett, es steht auch im einzigen Raum ohne Bücher (wobei ich nur zwei Räume habe). Ich lese am liebsten mit einer Tasse Kaffee auf dem Bauch, die einen wärmt und sich friedlich mit dem eigenen Atem hebt und senkt, wie ein Neugeborenes. Allerdings steht die Tasse etwas schräg nach vorn, weil ich abgenommen habe. Und wenn ich im Winter zu stark zunehme, kippt sie zur anderen Seite, in Richtung Gesicht, ich werde das beobachten. Eigentlich müßten sie mit der Recherche einen kleinen Proust-Kopf mitliefern, den man für die Dauer der Lektüre neben sich legen könnte, um ihm die Haare zu kraulen. Das wäre sicher sehr beruhigend, weil die Finger etwas zu tun hätten, und man wäre nicht so allein. III S.28-48 Der französische Hochadel ist nicht gerade eine Welt, an der großen Anteil zu nehmen ich Wert lege. Dieser dritte Band könnte also eine Prüfung für mich werden. Aber man muß großen Autoren folgen, egal, wohin sie gehen. Ich habe nie verstanden, wie man, wenn einem ein Buch gefallen hat, nicht bemüht sein kann, alles von diesem Autor zu bekommen. Wenn das alle so sehen würde, könnte der Autor Abonnements auf sein Gesamtwerk verkaufen und bis zu seinem Tod unabhängig von Verlagen daran arbeiten. Marcel stellt sich die Welt der Guermantes, die zum höchsten gehören sollen, was es in Frankreich an Adel gibt, einzigartig vor. "Das Leben, das man meiner Vorstellung nach dort führte, entstammte einer von aller Erfahrung so entlegenen Quelle und schien mir etwas so Einzigartiges zu sein, daß ich mir bei den Abendgesellschaften der Herzogin keine Leute denken konnte, die ich auch anderswo schon getroffen hatte, also keine realen Personen. Denn da diese ja nicht mit einem Male eine andere Natur anlegen konnten, hätten sie dort Reden geführt, die ungefähr den mir bekannten glichen; ihre Partner hätten sich am Ende so weit herabgelassen, ihnen in der gleichen menschlichen Sprache Antwort zu erteilen, und es hätte somit auf einer Abendgesellschaft im ersten Salon des Faubourg Saint-Germain Augenblicke gegeben, die aufs Haar von mir bereits durchlebten gleichgewesen wären; das aber konnte nicht sein." So etwas ähnliches habe ich auch schon einmal geschrieben: "Das Leben, das man meiner Vorstellung nach im Westen führte, entstammte einer von aller Erfahrung so entlegenen Quelle und schien mir etwas so Einzigartiges zu sein, daß ich mir beim Abendessen meiner Verwandten keine Leute denken konnte, die ich auch anderswo schon getroffen hatte, also keine realen Personen. Denn da diese ja nicht mit einem Male eine andere Natur anlegen konnten, hätten sie dort Reden geführt, die ungefähr den mir bekannten glichen; ihre Partner hätten sich am Ende so weit herabgelassen, ihnen in der gleichen menschlichen Sprache Antwort zu erteilen, und es hätte somit bei einem Abendessen in Frankfurt am Main Augenblicke gegeben, die aufs Haar von mir bereits durchlebten gleichgewesen wären; das aber konnte nicht sein." Nach dem Umzug wohnen sie im selben Haus wie Madame de Guermantes, aber sie haben noch keinen Kontakt mit ihr, nur Marcels Mutter hat einmal durch die zufällig geöffnete Tür eine in schlechtem Zustand befindliche Matte liegen sehen. "So nun begnügte ich mich, ehrfürchtig zu erschauern, wenn ich von hoher See aus (ohne Hoffnung, dort je vor Anker zu gehen), wie ein vorgeschobenes Minarett, eine erste Palme, einen Beginn von fremden Industrien oder exotischer Vegetation die abgenutzte Matte am andern Ufer liegen sah." Diese Verehrung für den Adel ist dem französischen Volk "mit einem gewissen Geist der Auflehnung gemischt" eingeschrieben. Françoise, die treue Dienerin, ist ein gutes Beispiel dafür: "Denn Françoise, zu der man von Napoleons Feldherrngenie oder der drahtlosen Telegraphie hätte sprechen können, ohne ihre Aufmerksamkeit zu fesseln und ohne daß sie auch nur einen Augenblick die Bewegung verlangsamt hätte, mit der sie die Asche aus dem Kamin nahm oder den Tisch deckte, brach, wenn ihr solche Besonderheiten zu Ohren kamen, wie daß der jüngste Sohn des Herzogs von Guermantes gewöhnlich Prinz von Oléron hieß, mit einer Miene, als stehe sie verzückt vor der Buntglasmalerei eines Kirchenfensters, in die Worte aus: 'Das ist aber schön!'" Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als Verwandte uns einmal eine westdeutsche Illustrierte mitgebracht hatten, in der vorwiegend die Rede von irgendwelchen europäischen Prinzen und Prinzessinnen war. Ich verstand nicht, was einen an diesen Menschen, die nicht einmal gut aussahen, aber dafür umso mehr Probleme in ihren Ehen hatten, interessieren sollte. In der DDR gab es nur Manfred von Ardenne, und der hatte das Fernsehen erfunden, wofür ich ihm tiefe Dankbarkeit entgegenbrachte. Im Opernhaus, bei einem Galaabend, auf dem auch die Berma auftreten würde, sitzt Marcel im Parkett und bewundert die Adligen in den dunklen Logen, die ihm vorkommen wie Meeresgötter. Die Berma hatte ihn damals enttäuscht, aber der Leidenschaft, mit der man sich gewünscht hat, etwas zu sehen, kann man auch nach der Ernüchterung nachtrauern: "Nicht ohne eine gewisse Melancholie allerdings stellte ich meine Gleichgültigkeit einer Sache gegenüber fest, der ich einst meine Gesundheit und Ruhe gerne geopfert hatte. Dabei war ich nicht weniger leidenschaftlich als damals darauf bedacht, die kostbaren Parzellen der Wahrheit, die meine Einbildungskraft ahnte, von nahem betrachten zu können...[..] seit meinen Besuchen bei Elstir hatte ich in bestimmte Erzeugnisse der Gobelinkunst oder der modernen Malerei jenen Glauben gelegt, den ich einst dem Spiel, der Tragödinnenkunst eben der Berma weihte..." Parzellen der Wahrheit in Erzeugnissen der Gobelinkunst zu ahnen, das wäre bestimmt ein Hobby, mit dem man in einer Kontaktanzeige die Menge möglicher Antwortkandidatinnen tüchtig aussiebt. Im Märchen sind Prinzessinnen immer schön, aber der wahre Adel ist häßlich. Unsere Zeit, die der Schönheit alles opfert, ist damit eigentlich wieder auf das Märchenniveau herabgesunken: "Bei der Herzogin von Luxemburg, Madame de Morienval, Madame de Saint-Euverte und vielen anderen nämlich wurde einem die Identifizierung durch das Zusammentreffen einer dicken roten Nase mit einer Hasenscharte, oder zweier runzliger Wangen mit einem Schnurrbartanflug ermöglicht. Auch diese Eigenheiten übten übrigens bereits einen gewissen Zauber aus, da sie ja nur den konventionellen Wert von Schriftzeichen besaßen, das heißt, einen berühmten Namen bezeichneten, der in sich selbst imponierte; aber sie führten auch schließlich dazu, daß Häßlichkeit schlechthin als etwas Aristokratisches erschien..." Allerdings muß die Häßlichkeit, um zu adeln, sicher wieder selten sein. Es reicht also nicht, sich zu piercen oder Stiefeletten mit reingesteckten Jeans zu tragen, wenn es alle anderen auch machen. Mit solchen Initiativen, die eigene Häßlichkeit voranzutreiben, wird man höchstens zum Landadel. Inventar: - Lederpunzarbeiten. Praxis: - Sich von seinen Stallburschen ein neues Pferd vorführen lassen.
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