Schmidt liest Proust
Freitag, 1. September 2006

Berlin - II S.423-445

Der Text spricht mir heute so sehr aus dem Herzen, daß es mir schwer fallen wird, zu kürzen. Es ist ein tröstliches Gefühl, zu lesen, was man selbst denkt, auch wenn es einen mißtrauisch machen sollte, denn man befindet sich in diesem Moment auf dem Niveau von Zeitungslesern, die ein bestimmtes Blatt abonnieren, weil sie darin täglich ihre eigene Meinung gedruckt finden. Eine Voraussetzung, sich so mit dem Geschriebenen zu identifizieren, ist für mich, daß der Autor tot ist und er einem mit seinem Ruhm nicht so sehr die Sonne nimmt, sondern, wie großartig er auch war, rein biologisch ein Vorläufer bleibt. Aber warum fühlt man sich bestätigt, wenn ein Autor, also auch nicht mehr als ein einzelner Mensch, geschrieben hat, was man denkt? Die erste Anmaßung ist ja schon, sich einzubilden, er habe das. Dabei sind Bücher wie Gesprächspartner, die nicht weglaufen können, die Leser bürden ihnen ihr ganzes Seelenleben auf und ihre Identifikation mit dem Buch ist vielleicht eine genauso fehlgeleitete Projektion, wie die eines Stalkers mit seinem Opfer. Außerdem gibt es keine Gerichtsverhandlungen über die Probleme meines Lebens, bei denen Proust als Gesetzestext dient, wie früher die Bibel. Als Autoritätsbeweis funktioniert er nur bei literarisch denkenden Menschen, mit denen man selten zu tun hat. Jemand, der an meiner Gefühlskälte leidet, läßt sich in der Regel nicht damit vertrösten, daß Proust diesen Charakterzug virtuos beschrieben hat, er wird trotzdem von mir verlangen, mein Verhalten zu ändern. Aber Proust beschreibt eben nicht nur, was ihn betrifft, sondern, was in jedem steckt, was sich nur nicht jeder so gnadenlos bewußt macht. Literatur ist hier, was sie ausschließlich sein sollte, und was für mich den Begriff eigentlich definiert, nämlich Forschung, und den Stand der Menschenforschung, den Proust erreicht hat, kann man zwar als Laie ignorieren, wie den Forschungsstand der Quantenphysik, aber wer selbst auf dem Gebiet des Menschen forscht, wird sich lächerlich machen, wenn er hinter Proust zurückgeht. Aber wenn dem so ist, warum fühlt man sich dann geschmeichelt und in seinem Dasein auf eine höhere Stufe gestellt, wenn man sich in Prousts Helden wiederzufinden glaubt, und nicht, wenn man seinen Charakter in den Fallberichten eines Psychiaters entdeckt?

S.423-445 Saint-Loup ist unglücklich in eine Schauspielerin unter seinem Stand verliebt: "Da seine Geliebte ihm nie sagte, was sie ihm eigentlich vorwarf, kam er auf die Vermutung, daß sie, da sie sich darüber ausschwieg, es am Ende selbst nicht recht wisse und seiner einfach überdrüssig sei; gleichwohl aber hätte er gern eine Aussprache herbeigeführt und schrieb ihr daraufhin: 'Sag mir, worin ich Unrecht tue. Ich bin ganz bereit, meine Schuld einzusehen', wobei der Kummer, den er selbst empfand, ihm die Überzeugung nahelegte, er habe sich falsch benommen." Vielleicht sollte ihm einmal jemand sagen, daß seine Geliebte vermutlich tatsächlich nicht weiß, was sie ihm vorwirft, und daß Frauen darin virtuos sind Schuldgefühle zu erzeugen, um sich die Aufmerksamkeit des Manns zu sichern.

Marcel hat nicht das Glück oder Pech wegen einer Frau, die er liebt, für die anderen blind zu sein, im Gegenteil: "Ich befand mich in einer jener Perioden der Jugend, die, nicht von einer speziellen Liebe beherrscht, allem offen stehen und in denen man – wie ein Liebhaber die Frau, die er liebt – die Schönheit ersehnt, nach ihr trachtet, sie überall erblickt." In dieser Verfassung beobachtet er nun am Strand eine Gruppe Mädchen, die an ihm vorübergehen, eine davon schiebt ein Fahrrad, zwei andere tragen Golfschläger: "...ihr Anzug aber war völlig verschieden von dem der anderen jungen Mädchen in Balbec, von denen einzelne zwar dem Sport huldigten, aber ohne dafür eine Spezialkleidung anzulegen." Zu dieser Stunde gehen die Damen und Herren Urlauber auf der Mole hin und her zu einer gefürchteten Stuhlreihe: "...wo sie, aus Schauspielern nunmehr zu Kritikern geworden, sich niederlassen würden, um ihrerseits die Vorüberwallenden intensiv zu mustern." Diese Leute tun angestrengt so, als sähen sie die anderen nicht, aber: "...die Liebe – und infolgedessen die Furcht – gegenüber der Menge ist eine der mächtigsten Triebkräfte der Menschen, sei es, daß sie den andern gefallen, sie verblüffen oder aber ihnen zeigen wollen, daß sie sie verachten. Auch bei einem einsam lebenden Menschen hat die vollständige und bis ans Lebensende dauernde Abschließung oft eine fehlgeleitete Liebe zur Masse der Menschen als Basis, eine Liebe, die so sehr jedes andere Gefühl überwog, daß er, da er beim Ein- und Ausgehen nicht die Bewunderung der Concierge, der Passanten, des vor der Tür wartenden Kutschers zu erringen vermochte, vorzog, gar nicht mehr von ihnen gesehen zu werden, und jedwede Tätigkeit aufgab, durch die ein Ausgehen erforderlich würde." Auch für diese Selbstblockade gibt es bestimmt einen Fachbegriff aus der Psychopathologie. Die Mädchen in der sportlichen Spezialkleidung leiden nun anscheinend nicht an solchen Gefühlen der Menge gegenüber, sie schreiten "mit der Beherrschung aller Gesten, die eine vollkommene Schmeidigung des eigenen Körpers und eine aufrichtige Nichtachtung gegenüber der übrigen Menschheit verleiht, ohne Zögern und ohne Steifheit geradeaus, wobei sie genau die Bewegungen ausführten, die sie ausführen wollten..." Sie sind sozusagen Kleistsche Marionetten, deren Seele irgendwohin ausgelagert ist, wo sie beim geschmeidigen Gehen nicht stört. Zunächst sind sie alle gleich schön, und man kann sie kaum voneinander unterscheiden. Und vielleicht ist es gar kein Zufall, daß ausgerechnet sie Freundinnen sind: "...vielleicht hatten sich die Mädchen (deren Haltung schon ihre kühne, oberflächliche, harte Natur enthüllte), übermäßig empfindlich gegen alles Häßliche und Lächerliche, unfähig, einer Anziehung geistiger oder seelischer Art nachzugeben, in der Schar gleichaltriger Kameradinnen auf Grund eines gemeinsamen Widerwillens gegen alle die zusammengefunden, bei denen eine nachdenkliche und gefühlsbetonte Veranlagung sich in Schüchternheit, Befangenheit und Ungeschick, kurz durch etwas verriet, was sie wahrscheinlich ein 'unsympathisches Wesen' nannten, und diese Geschöpfe von sich ferngehalten, während sie sich im Gegenteil mit anderen anfreundeten, zu denen sie sich durch eine gewissen Mischung aus Anmut, Geschicklichkeit und körperlicher Eleganz hingezogen fühlten, in deren Gestalt allein sie sich den natürlichen Freimut einer anziehenden Wesensart und die Aussicht auf sehr fröhlich verbrachte gemeinsame Stunden vorstellen konnten." Diese Selbstselektion der Schönen und Sorglosen, die sich ganz natürlich zusammenfinden und die anderen, "die immer hinfallen" (wie Magdalena Vermehren bei Thomas Mann), ausschließen, das klingt wie aus einem Houellebecq, und es ist doch eine Genugtuung, daß die Houellebecq-Verächter, die es ja gibt, mit ihm auch Proust verwerfen müßten, wovor sie vermutlich aus opportunistischen Gründen zurückschrecken würden. Da es sich nicht um Damen handelt, sondern um "Dirnen aus dem Volk", kündigt sich hier die Herrschaft eines neuen Menschentyps an, für den die aristokratische oder intellektuelle Welt zwar Verachtung zeigen kann, aber sie wird dennoch hinweggefegt, bzw. einfach ignoriert, was dasselbe ist. Die Unterklassegrazien sind nicht mehr nur schmückende Anhängsel der Reichen oder solcher Leute wie Bloch, sondern souveräne Herrscherinnen. "Vielleicht befand sich auch die Klasse, der sie angehörten und die ich nicht genau hätte bestimmen können, an jenem Punkte des Aufstieges, wo, sei es auf Grund zunehmenden Reichtums oder größerer Muße, sei es dank den neuen Sportgewohnheiten, die selbst in gewisse bescheidenere Kreise eingedrungen waren, und einer Körperkultur, zu der sich noch nicht die des Geistes hinzugesellt hatte, eine soziale Schicht gleich jenen Schulen der Bildhauerkunst, die, harmonisch und fruchtbar, noch nicht nach einem Ausdruck komplizierter Seelenzustände suchen, ganz von sich aus eine Fülle schöner Leiber schöner Beine, schöner Hüften, gesunder, ausgeruhter Gesichter mit einem Einschlag von Beweglichkeit und Verschlagenheit erschafft." Und an diesem Punkt kommt wieder ein Hauch Kafka, denn die Mädchen bekommen sofort etwas beunruhigend mechanisches, wenn sie die anderen auf der Mole gar nicht wahrzunehmen scheinen: "...sie zwangen die Personen, die stehengeblieben waren, sich vor ihnen zu teilen wie vor einer Maschine, die, einmal in Gang gesetzt, nicht erwarten läßt, daß sie den Fußgängern aus dem Wege geht, und begnügten sich höchstens damit, wenn irgendein alter Herr, dessen Existenz sie ignorierten und mit dem sie nichts zu tun haben wollten, mit furchtsamen oder wütenden, jedenfalls aber überstürzten und lächerlichen Gebärden geflüchtet war, einander anzuschauen und dabei zu lachen." Wie oft habe ich mich alt gefühlt, wenn ich mit überstürzten und lächerlichen Gebärden im letzten Moment vor mich deshalb auslachenden, sportlichen Mädchen mit Golfschlägern geflüchtet bin. Eine von ihnen hüpft von der Mole aus über den Kopf eines Achtzigjährigen in den Sand, wobei sie seine Strandmütze mit den Füßen berührt, eine andere macht darüber eine ironische Bemerkung: "Der alte Mümmelgreis tut mir leid, er ist halbtot vor Schreck." Wie grausam machen Jugend und Schönheit, und es ist ein geringer Trost, daß die realen Vorbilder dieser Erscheinungen inzwischen sämtlich von den Würmern gefressen sein werden, denn, wo eine verwelkt, blühen zehn andere, noch giftigere auf. "Sie gingen noch ein paar Schritte weiter, blieben dann plötzlich stehen, ohne darauf achtzugeben, daß sie den Spaziergängern dadurch den Weg versperrten, und hielten miteinander Rat in der unregelmäßig geformten, dichten, in die Augen fallenden, zwitschernden Gruppierung von Vögeln, die sich zum Abflug sammeln..." Ist es nicht faszinierend, daß Proust eine Gruppe Mädchen, die vielleicht niemandem sonst aufgefallen ist, aus einem langweiligen Strandnachmittag herauslöst und zum Anlaß für ein solches Porträt nimmt? Er könnte auch eine Figur aus einem antiken Drama beschreiben, oder einen Essay über eine Skulptur, aber die banale Gegenwart bietet genug Material, um seine Studien zu betreiben. Kritiker, die den Begriff "Alltagsprosa" als abwertendes Merkmal für Texte benutzen, sollten sich das zu Herzen nehmen, denn, was Proust beschreibt, ist nichts anderes als sein und unser Alltag, nur daß nicht jeder seinen Alltag mit solchen Kenneraugen durchleuchtet. Marcel stellt die Hypothese auf "alle diese Mädchen gehörten zum Publikum des Velodroms und wären vermutlich die sehr jungen Geliebten der dortigen Radrennfahrer." Also haben wir doch den falschen Beruf gewählt, Radrennfahrer wäre es gewesen... Natürlich ist es wieder die in ihren Blicken aufblitzende "herausfordernde Gleichgültigkeit", die ihn provoziert, er hat ja schon oft bewiesen, daß er nicht damit umgehen kann, nicht beachtet zu werden. "Während ich dicht an der Brünetten mit den vollen Wangen vorüberging, die das Rad vor sich herschob, begegnete ich ihrem schrägen lachenden Blick, der aus den Tiefen der unmenschlichen Welt hervorbrach, in der das Leben dieser kleinen Gemeinschaft fest beschlossen lag, aus einem Unzugänglichen, Unbekannten, in dem der Gedanke, daß ich da sei, gewiß weder jemals Eingang noch einen Platz würde finden können." Schöne Frauen, die einen nicht beachten, stammen nämlich aus einer "unmenschlichen Welt", sie sind also mit anderen Worten Monster. "Ich wußte, daß ich diese junge Radfahrerin nicht würde besitzen können, wenn ich nicht das besäße, was in ihren jungen Augen lag. Ihr ganzes Leben flößte mir Verlangen ein, ein Verlangen, das um so verzehrender war, als ich es als unerfüllbar und doch berauschend empfand, weil das, was mein Leben gewesen war, auf einmal aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, vielmehr nur noch ein kleiner Teil der vor mir liegenden Weite war, die zu durchmessen ich brennend wünschte, die aus dem Leben dieser Mädchen bestand und jene Fortsetzung und vielleicht sogar Mehrung des eigenen Ich verhieß, die wir als Glück bezeichnen."

"Und doch, die Vorstellung, ich könne eines Tages der Freund der einen oder anderen dieser jungen Personen werden, diese Augen, deren mir fremde Blicke mich manchmal trafen, wenn sie gedankenlos über mich hinspielten wie ein Sonnenreflex auf einer Mauer, könnten jemals infolge einer ans Wunderbare grenzenden Alchimie in ihre unaussprechlichen Parzellen eine Idee von meinem Vorhandensein eindringen lassen, ja etwas wie Freundschaft für meine Person, ich selbst könne eines Tages meinen Platz unter ihnen haben in diesem festlichen Zuge, den sie am Meeresufer vollführten – diese Vorstellung schien mir einen so unlöslichen Widerspruch in sich selbst zu enthalten, als wenn ich vor einem attischen Fries oder einem Fresko, auf dem ein Festzug dargestellt war, auf den Gedanken käme, ich, der Zuschauer, könne, von jenen Gestalten geliebt, unter den göttlich Dahinwallenden einen Platz einnehmen." Und anders, als bei den Frauen, die er vom Wagen aus nur flüchtig sieht und deshalb begehrt, gehen diese Mädchen ja ganz langsam an ihm vorbei. Deshalb muß er nicht glauben, daß, aus der Nähe betrachtet, wie sonst so oft "ein Mangel in der Zeichnung der Nasenflügel" der Frau ihren ganzen Zauber nehmen würde. "Sie boten ein so köstliches und vollkommenes Bild des unbekannten, doch möglichen, vom Leben bereitgehaltenen Glücks, daß ich fast aus rein gedanklichen Gründen so verzweifelt war, nicht unter solch einzigartigen Bedingungen, die jeden Irrtum ausschlossen, die Erfahrung dessen machen zu können, was uns die Schönheit an Geheimnisvollem zu enthüllen hat, die Schönheit, nach der man verlangt und über deren ewige Unerreichbarkeit man sich dennoch tröstet, indem man – was Swann (vor Odette) immer verschmäht hatte – Freuden bei Frauen sucht, die man nicht eigentlich zu besitzen verlangt, so daß man sterben kann, ohne jemals erlebt zu haben, wie dies andere Glück wohl beschaffen gewesen sein mag." Was tut man, wenn man noch zu jung ist zu sterben, aber trotzdem schon weiß, daß man dieses Glück nie erleben wird? Marcel geht zurück ins Hotel und legt sich eine Stunde aufs Bett "eine Form der Siesta, die ich auf ärztliches Geheiß bald auch auf alle anderen Nachmittage ausdehnen mußte."

Unklares Inventar: Pennsylvaniarosen

Verlorene Praxis: - nicht ohne seine Hänflinge und Papageien verreisen.

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