Schmidt liest Proust
Mittwoch, 30. August 2006

Berlin - II S.380-402

Wenn man immer elitärer wird, liegt das nicht an einem selbst, sondern an der Umwelt, die sich permanent disqualifiziert. Gestern las ich in der in der Regel stilbewußten und manchmal sogar brillant anspielungsreichen Zeitschrift "intro" ein Gespräch mit Jan Delay, in dem dieser seine Verehrung für den leider inzwischen so stark unterschätzten Udo Lindenberg erläutert. Ich war froh, mit meiner Verehrung für Udo einmal nicht allein zu sein und man wünscht sich tatsächlich das von Jan Delay produzierte Udo-Album, von dem er spricht. 1994 und selbst nach Erscheinen der ersten American Recordings erntete man ja nur Unglauben, wenn man sich als Johnny-Cash-Verehrer bekannte, ein ebenso würdiges und von allen Manierismen entschlacktes Udo-Lindenberg-Spätwerk steht noch aus. Im selben Gespräch behauptet Jan Delay dann, gehört zu haben, das Wort "deutsch" stamme aus dem Polnischen und bedeute "stumm". Dabei weiß doch jeder, daß der Deutsche in den meisten slawischen Sprachen "niemietz" oder ähnlich heißt, also tatsächlich stumm, bzw. "zungenlos", daß das Wort aber auf keinen Fall ins Deutsche übernommen sein kann. "Deutsch" bedeutet wohl "zum Volk gehörig", womit ursprünglich die Sprache gemeint war, im Gegensatz zum Latein und zu den romanischen Sprachen. "Welsch" bezeichnet dann die anderen. Das spielt natürlich überhaupt keine Rolle, man kann nicht alles wissen. Aber man sollte sich seiner Ahnungslosigkeit bewußt sein, bzw. sein Wissen in Zweifel ziehen, bevor man es äußert. Ärgerlich ist, wenn von einem in der Öffentlichkeit stehenden "Sprachkünstler" meiner Generation Halbwissen aufgeschnappt und ungeprüft wiedergegeben wird. Es weiß einfach niemand mehr, was in der Bildung die Maßstäbe sind, wo man sich äußert, und wo man lieber den Mund hält. Wegen solcher Erlebnisse ist es mir unangenehm, bei der "Chaussee der Enthusiasten" aus den Proust-Notizen zu lesen, weil man das Gefühl hat, die Menschen zu belästigen, schon wenn man einen Satz mit mehreren Kommas zitiert. Eigentlich schon, wenn man über einen Autor spricht, den nicht jeder kennt. Nichts ist lästiger als die Leidenschaften anderer. Irgendwann wird mich die Anstrengung, die man aufbringen muß, um nicht elitär zu wirken, aber überfordern.

S.380-402 Bloch taucht wieder auf, er macht keine sympathische Figur. Er stammt aus einfachem Haus: "Um durch Emporarbeiten von einer jüdischen Familie zur anderen nach oben vorzudringen, hätte es für Bloch einer Spanne von mehreren Jahrtausenden bedurft." Und er sucht nach einer Abkürzung. Aber Marcel kann ihn deshalb nicht verurteilen: "...denn ich hatte von meiner Mutter und Großmutter die Eigenschaft geerbt, unfähig zum Groll zu sein, selbst Wesen gegenüber, die weit schuldiger waren, und nie über jemand den Stab zu brechen." Das gemeine ist, daß Menschen, die so treuherzig sind, dann auch noch mehr leiden als die anderen.

Der Baron von Guermantes, auch Baron de Charlus, ein Onkel von Saint-Loup, kommt, um seinen Neffen zu besuchen, nach Balbec. "Auf Grund seiner Leidenschaft für körperliche Übungen" wandert er dorthin, "er selbst sprang nach seinen Fußwanderungen, nach stundenlangen Läufen, noch glühend erhitzt in einen eisigen Fluß". In seiner Jugend war er einmal "tonangebend" in der Gesellschaft gewesen, wie Saint-Loup zu berichten weiß: "Ob er zum Kuchenessen anstatt eines Löffels eine Gabel benutzte oder ein selbsterfundenes Eßgerät, das er für seinen persönlichen Gebrauch bei einem Goldschmied hatte herstellen lassen, es war von dem Augenblick an nicht mehr erlaubt, anderes zu verwenden." Die Guermantes sind ja schon länger Objekt von Marcels Phantasien. Kein Wunder, denn der Baron besaß "im Auftrage seiner Ahnen von Raffael, von Velasquez, von Boucher gemalte Porträts".

Auch Charlus ist ein Ästhet, also jemand, der die Dinge, die ihm begegnen, dann besonders genießt, wenn sich Verknüpfungen zu Bildung oder Kunst anstellen lassen. Z.B. empfindet er Vergnügen an der Gesellschaft von Frauen "deren Ahninnen zweihundert Jahre früher Trägerinnen des Glanzes und der Eleganz des Ancien régime gewesen waren..." Bei seiner Bewunderung spielen "zahllose historische und künstlerische Erinnerungen, die mit ihren Namen verknüpft waren" eine große Rolle "so wie die Vorliebe für das Altertum das große Vergnügen erklärt, das ein Kenner bei der Lektüre einer Horazischen Ode verspürt, die vielleicht weniger wertvoll ist als ein Gedicht unserer Tage, das diesen Humanisten am Ende kaltlassen würde."

Zwar lädt der Baron Marcel und seine Großmutter zum Tee bei Madame de Villeparisis, seiner Tante, aber er schenkt ihm dann keine Beachtung. Eigenartig, wie oft Marcel das passiert, die Mutter wird aufwendig überlistet, um ihr noch einen Gutenachtkuß abzutrotzen, Saint-Loup ist erst arrogant, dann blitzartig ein Freund fürs Leben, die Berma soll für ihn alleine spielen, der Hoteldirektor und die Gäste ignorieren ihn, Gilberte muß nur einmal stärkere Lust auf einen Tanzabend, als auf den täglichen Tee mit ihm verspüren, damit er sich in asketischer Entschlossenheit ihrer entwöhnt (nicht ohne ihr Briefe zu schreiben). Das spricht alles für das leicht zu verletzende Ego eines Einzelkinds, das die übertriebene Aufmerksamkeit seiner Mutter und Großmutter genossen hat und nun nicht damit umgehen kann, in der Welt nicht immer wie selbstverständlich im Mittelpunkt zu stehen. Aber wenn Marcels Geltungssucht ihn zu solch einem Kraftakt wie der Recherche angestiftet hat, soll es uns recht sein.

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