Schmidt liest Proust
Dienstag, 29. August 2006

Berlin - II S.360-380

Ist man elitär, wenn man Proust liest? Zweifellos steigert es das Vergnügen, zu wissen, daß man nicht der Masse folgt. Aber dann könnte man auch irgendeinen anderen obskuren Autor lesen und sicher sein, noch weniger Gesellschaft zu haben. Dagegen ist bei Proust das Gefälle zwischen hohem Prestige und geringer Bekanntheit seiner Bücher besonders groß. Wie bei Einstein, alle wissen, daß er was mit dem Raum und der Zeit gemacht hat, aber keiner kennt die Theorie. So wird man, nachdem man Proust gelesen hat, ein Spezialist der menschlichen Seele sein, und wie ein Astro-Physiker Gespräche mit Nicht-Experten über sein Fachgebiet nur noch höflichkeitshalber führen. Das Problem ist, daß die Menschen eine Seele enthalten, zu der sie auch eine Meinung haben, wie zur Krümmung des Raums. Aber die wirkliche Beschaffenheit ihrer Seele ist ihnen doch so unbekannt, wie die Zusammensetzung und der Kreislauf ihres Bluts. Wie bei jedem Buch, das einem gefällt, lebt man ja in der Illusion, es sei nur für einen selbst geschrieben. Es würde den Genuß entwerten, wenn man wüßte, mit wem man ihn teilt. Da geht es einem wie Marcel mit der Berma, die anderen Zuschauer stören doch eher. Warum stellt man sich ein Treffen von Proust-Freunden quälend vor? Weil man dann natürlich gekränkt wäre, daß andere mehr wissen, als man selbst, oder - wie man selbst – den Text als Projektionsfläche für ihre eigenen Probleme mißbrauchen. Wirklich elitär wäre man, wenn man einen Autor wie Proust bezahlen würde, damit er einem solch ein Meisterwerk schreibt, das man dann niemandem sonst zu lesen gibt, und mit ins Grab nimmt. Wobei, genau genommen, ist man solch ein Autor ja selbst.

Bis jetzt habe ich das Buch gelesen, als sei es gerade erst erschienen und, obwohl die Versuchung groß ist, mich gehütet, mehr über Proust zu erfahren. Vorhin habe ich doch einmal geguckt und bin sofort darüber gestolpert, daß hinter Albertine sein Chauffeur und späterer Sekretär und Geliebter stecken soll. Ich wünschte, ich könnte das wieder vergessen. Andere Tatsachen: die Stadt Illiers wurde Proust zu Ehren 1971 in Illiers-Combray umbenannt, die Fiktion hat die Wirklichkeit besiegt. Wenn man das mit Berlin schaffen würde, oder sogar mit Deutschland! Oder wenn die Menschen sich nach meinem Tod in Schmidtschen umbenennen würden! Man darf ja träumen. Wenigstens könnte eine Frau, an der ich mich in einem Text abgearbeitet habe, sich nach meinem Tod zu meinen Ehren am Charakter orientieren, den ich ihr im Buch gegeben habe, auch wenn sie immer bestritten hat, dieser Figur zu ähneln.

1897 soll Proust sich mit einem Kritiker duelliert haben, hoffentlich hat er ihm seine empfindlichsten Stellen durchlöchert. André Gide hat den ersten Band der Recherche in seiner Eigenschaft als Gallimard-Lektor abgelehnt, was für ein Trottel. Aber es gehört natürlich bei den ganz großen Werken dazu, daß sie solch eine traurige Publikationsgeschichte haben. 1921 erleidet Proust einen Schwächeanfall, als er in einer Ausstellung die Ansicht von Delft von Vermeer betrachtet, ein Jahr später stirbt er schon. Wäre es nun besser, nach Abschluß seines Werks noch 40 Jahre seinen wachsenden Ruhm zu genießen? Oder gehört der Tod nach dem letzten Satz mit zum Text, wie eine Art Gütesiegel? Zumindest in diesem Fall, wo es ja das Programm des Textes zu sein scheint, das Leben zu entmündigen. Solche Gedanken an einem Abend, an dem man die Einsamkeit, die man morgens noch gepriesen und tagsüber ausgekostet hat, als bedrückend und unerträglich empfindet.

S.360-380 Madame de Villeparisis kündigt das Eintreffen ihres Neffen, des Marquis de Saint-Loup-en-Bray an. Sofort phantasiert Marcel: "...schon stellte ich mir vor, er werde von Sympathie für mich erfüllt, ich werde sein bevorzugter Freund sein, und als vor seinem Eintreffen noch seine Tante meiner Großmutter zu verstehen gab, er sei unglücklicherweise einer übeln Person in die Hände gefallen, auf die er ganz versessen sei und die ihn nicht loslassen wolle, dachte ich, überzeugt, daß eine solche Art von Liebe schicksalhaft mit Geisteskrankheit, Verbrechen und Selbstmord enden müsse, an die kurze Zeit, welche unserer Freundschaft, die in meinem Herzen schon so großgeworden war, bevor ich ihn überhaupt kannte, noch vergönnt sein werde, und beweinte die Freundschaft bereits wie auch das viele Unglück, das sie erwartete, ganz als handle es sich um ein geliebtes Wesen, von dem man uns mitgeteilt habe, es sei schwer krank und seine Tage seien gezählt." Ein beunruhigender Tick, sich so in seiner Phantasie fremde Personen, die einen gar nicht kennen, einzuverleiben. Irgendwann kann man dann nicht mehr unterscheiden, was sie wirklich gesagt haben, und was man sich nur vorgestellt hat, das macht einen bestimmt nicht beliebter. Sicher gibt es dafür in der Psychologie einen Begriff, es erinnert ein bißchen an Stalker, die sich einfach nicht vorstellen können, im Leben ihres Opfers keine Rolle zu spielen. Saint-Loup "...durchmaß schnell das Hotel in seiner ganzen Breite, wobei er seinem Monokel nachzulaufen schien, das wie ein Schmetterling vor ihm herflatterte." Aber er ignoriert Marcel zunächst völlig, der seinerseits schon den Aristokraten in ihm bewundert. Er ergriff "mit der Eleganz und Meisterschaft, die ein großer Pianist an den einfachsten Stellen geltend zu machen weiß, bei denen man es für unmöglich gehalten hätte, man könne sich in ihnen einem zweitrangigen Virtuosen überlegen zeigen, die Zügel, die der Kutscher ihm in die Hände gab, ließ sich neben ihm nieder und trieb, während er einen Brief öffnete, den der Direktor ihm überreichte, seine Pferde an." Nicht wie wir, die wir gerade an "den einfachsten Stellen" im Leben zu stolpern pflegen. Angeblich verrät den Frauen ja die Art, wie Männer Auto fahren, wie sie im Bett sind. Man sollte hier also seine Eleganz und Meisterschaft geltend machen.

Ist Saint-Loup wirklich so arrogant, oder übertreibt Marcel schon wieder, weil er zuviel reflektiert? Er scheint selbst zu zweifeln: "Aber ein charakteristisches Merkmal des komischen Alters in dem ich mich befand – ein keineswegs fruchtloses, sondern recht produktives Alter -, ist eben, daß man den Verstand nicht befragt und daß einem in dieser Zeit die beiläufigsten Eigenheiten der Menschen unverbrüchlich zu ihrem Wesen zu gehören scheinen. Ganz von Ungeheuern und Göttern umringt, kennt man fast keine Ruhe. Man führt in diesen Jahren beinahe keine Geste aus, die man nicht nachher gern zurücknehmen möchte. Aber man sollte statt dessen gerade bedauern, daß man die Spontaneität nicht mehr besitzt, die sie uns ausführen ließ. Später sieht man die Dinge auf eine praktischere Art in ganz der gleichen Weise wie die übrige Gesellschaft an, die Jugend aber ist die einzige Zeit, in der man etwas lernt." Aber gerade an die Gesten, die man in der Zeit, in der man "von Ungeheuern und Göttern umringt" ist, gern zurücknehmen möchte, erinnert man sich ein Leben lang.

Und plötzlich und fast kommentarlos sind Saint-Loup und Marcel schon "Freunde fürs Leben geworden", was ihn nun wieder traurig stimmt, denn "weder das Beisammensein mit ihm noch unsere Gespräche – zweifellos wäre es mit jedem anderen genau das gleiche gewesen – verschafften mir irgend etwas von dem Glück, das ich nur zu empfinden vermochte, wenn ich ohne Gefährten war. War ich allein, so fühlte ich manchmal aus den Tiefen meines Innern Eindrücke aufsteigen, die mir ein köstliches Wohlgefühl gaben. Aber sobald ich mich in Gesellschaft eines andern befand, sobald ich zu einem Freunde sprach, vollzog mein Geist eine Wendung und lenkte meine Gedanken nunmehr auf jenen anderen und nicht mehr auf mich; wenn sie aber in dieser Richtung verliefen, verschafften sie mir keine Freude mehr." Er bewundert etwas Unbewußtes an Saint-Loup: "...nämlich den Aristokraten, der wie ein Geist im Innern seine Glieder lenkte, seine Gebärden und Handlungen entscheidend dirigierte..." In seinen Bewegungen erkennt er "die ererbte Gelenkigkeit der großen Jäger wieder..." Und "Gerade weil er ein Aristokrat war, hatten seine geistige Lebendigkeit und die Hinneigung zum Sozialismus, die ihn dazu bewog, die Gesellschaft unbescheidener, schlechtgekleideter junger Stundenten zu suchen, bei ihm etwas Reines und Selbstloses, was sie bei jenen nicht besaßen." Richtig, nur, wenn man von allen finanziellen Sorgen befreit ist, kann man ein wahrer Revolutionär sein, weil man sonst immer im Verdacht steht, der Wunsch, die Welt zu ändern, entspringe insgeheim nur Neid und man könne es nicht erwarten selbst die Stelle der verhaßten Unterdrücker einzunehmen.

Noch das Porträt einer Gesprächsfloskel, des Satzes "Übrigens kommt es darauf gar nicht an", mit dem man jemanden beruhigt, der einem einen Wunsch nicht erfüllen kann. "Es handelt sich tatsächlich um einen Satz voller Tragik, um die Worte, die sich als erste – und wie herzzerreißend sind sie dann – auf den Lippen jedes einigermaßen stolz veranlagten Menschen einstellen, dem man durch die Verweigerung einer Gefälligkeit die letzte Hoffnung geraubt hat, an die er sich noch klammerte: 'Gut, gut, es ist natürlich nicht wichtig, ich finde schon einen anderen Weg', wobei dieser andere Weg, auf welchen angewiesen zu sein so gar nicht wichtig ist, häufig der Selbstmord ist." Genau das ist mir gerade wieder passiert, als ich beim Fahrradhändler nach einem Halter für mein Bügelschloß gefragt habe, der alte war nach Jahren kaputtgegangen. Solche Halter würden nicht mehr hergestellt oder nicht separat verkauft, hieß es. Mir ist es ja immer peinlich, wenn mir jemand einen Wunsch nicht erfüllen kann, man will ja niemandem zur Last fallen. Hätte ich geahnt, daß der Fahrradhändler keine Bügelschloßhalter führt, hätte ich ihn nie danach gefragt. Er drehte sich nach seinen Schubladen um, als hoffe er, dort zufällig doch noch einen Bügelschloßhalter zu entdecken, aber es war nur eine Verlegenheitsgeste, eigentlich wollte er sich von mir abwenden. Ich beruhigte ihn: "Gut, gut, es ist natürlich nicht wichtig, ich finde schon einen anderen Weg." Wenn ich mich jetzt deswegen umbringen soll, ist natürlich die Frage, ob ich mein Fahrrad solange angeschlossen lasse, und wenn nicht, wie ich dann mein Bügelschloß befestige.

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