Schmidt liest Proust |
Montag, 28. August 2006
Berlin - II S.340-360 jochenheißtschonwer, 28.08.06, 19:26
Die demütigende Erfahrung, beim Fußball als einer der letzten gewählt zu werden, noch potenziert durch die Tatsache, daß die Mädchen wählen dürfen. Eine narzißtische Kränkung, die sich nicht dadurch wegdiskutieren läßt, daß die entsprechenden Mädchen weder fußballerisch, noch intellektuell das Niveau haben, um den eigenen Rang beurteilen zu können. Warum erkennt man ihnen überhaupt den Status einer Person zu, von der man nicht verkannt werden möchte? Man erwartet ja auch nicht von jeder streunenden Katze, daß sie gerne mit einem leben würde. Diese Wahlsituation erinnert mich an ein ähnliches Erlebnis während einer Klassenfahrt, als wir nach einer kurzen Begegnung mit der Dorfjugend abends wieder im "Objekt" waren und plötzlich an der Tür zwei Abgesandte der hiesigen Damenwelt auftauchten und einen Zettel durchreichten mit Angaben über diejenigen unter uns, mit denen sie sich gerne unterhalten würden. Vielleicht macht sich mein Gedächtnis einen Spaß daraus, mich zu quälen, aber ich meine mich zu erinnern, daß es sogar ich war, der den Zettel anvertraut bekam. Sie wünschten den mit der gestreiften Hose, den mit den kurzen, schwarzen Haaren und den, der zu Hause ein Motorrad hatte zu sehen. Ich mußte mit dem Rest, der sich als Liebhaber schon vor der ersten Bewährungsprobe abgeschrieben hatte, mit der Lehrerin und den mitgereisten Müttern kniffeln, während die anderen sich im Wettlauf um die Höhepunkte der Pubertät uneinholbar entfernten. Seitdem denke ich, daß es ein Fehler ist, Frauen die Wahl zu lassen, ob nun in der Politik, in der Musik oder beim Fußball, sie suchen sich immer die mit den gestreiften Hosen aus. Man muß sie vor sich selbst schützen. S.340-360 Ein Schlüsselabschnitt, das paradoxe Begehren nach der unbekannten Fremden und eine neue Madeleine werden beschrieben. Im Wagen sitzend, also in gewisser Weise vom Körper befreit und rein konsumierend, wie im Kino, sieht Marcel durchs Fenster Frauen und kann nicht anhalten, z.B. "ein Landmädchen, das seine Kuh vor sich hertreibt." Jene Geschöpfe, "die wie natürliche Blüten eines so schönen Tages und doch nicht wie Blumen der Felder sind, denn jede birgt in sich etwas, was in der anderen nicht ist und uns daran hindert, mit nur ihresgleichen jenes Verlangen zu stillen, das sie selbst in uns erstehen läßt..." Man ist also zum Fremdgehen verurteilt, ein Problem, das sich erst aus der Welt schaffen läßt, wenn man die Frauen genetisch so manipuliert, daß sie alle gleich aussehen. Sobald ihr Sein, ihre Seele, oder ihr Wille "auf dem Grunde ihres zerstreuten Blicks erschien, fühlte ich in mir – eine geheimnisvolle Entsprechung des für den Blütenstempel bereits vorgerichteten Pollens – in embryohafter, ebenso winziger Weise den Wunsch entstehen, dies Mädchen nicht vorübergehen zu lassen, ohne daß ihr Bewußtsein meine Person in sich aufnähme, ohne daß ich ihre Wünsche hinderte, einem andern zuzustreben, oder mich in ihren Träumen eingenistet und an ihr Herz gerührt hätte." Die narzißtische Kränkung, von jemandem nicht bemerkt zu werden, ein Schicksal, das man in den großen Städten zwangsläufig häufiger erleidet, weshalb heute jeder prominent sein will. (Der zum Blütenstempel passende Pollen, wieder eine naturwissenschaftliche Metapher. Es wirkt manchmal, als hätte Proust die Wissenschaftsseite der FAZ studiert, um unverbrauchtes Metaphernmaterial aufzutun.) Aber wie die Zeit läßt sich der Wagen nicht anhalten: "Lag es an dieser nur so flüchtigen Vision, daß sie mir so schön erschienen war? Vielleicht. Schon die Unmöglichkeit, bei einer Frau zu verweilen, die drohende Gefahr, ihr nie wieder zu begegnen, verleihen ihr plötzlich den Reiz, den ein Land in unseren Augen durch Krankheit oder Armut bekommt, die uns unmöglich machen, es aufzusuchen, oder die letzten überschatteten Tage, die uns zu leben bleiben, durch den Kampf, in dem wir zweifellos unterliegen werden. So müßte, wäre nicht die Gewohnheit dafür ein Hindernis, das Leben denen köstlich erscheinen, die täglich vom Tode bedroht sind – allen Menschen demnach." Noch einmal eine Beschreibung des quälenden Reizes einer Fernbeziehung, mit ihren ständigen, möglicherweise endgültigen Abschieden. Aber wenn man sich oder seine Beziehung nicht vom Tode bedroht sieht, erscheint einem das Leben eben auch nicht köstlich. Genauso sind Texte, die man nicht zur Veröffentlichung freigibt zwar noch verbesserbar, aber die Publikation, die sie einem entzieht, macht sie sozusagen sterblich. Ein Reiz, der im Internet publizierten Texten fehlt, weil sie sich nicht materialisieren und keine Endgültigkeit mit all ihren Mängeln haben. "Wenn es dunkelt und der Wagen fährt rasch, gibt es in Land und Stadt keinen weiblichen Torso, verstümmelt wie ein antikes Marmorbild durch unser rasches Vorüberfahren und die ihn im Nu verschlingende Dämmerung, der nicht an jedem Kreuzweg im Feld oder aus der Tiefe eines kleinen Ladens Pfeile der Schönheit in unser Herz entsendet, jener Schönheit, um derentwillen man manchmal versucht ist, sich zu fragen, ob sie in dieser Welt überhaupt etwas anderes ist als das Komplement, das einer fragmentarisch geschauten flüchtig Vorübereilenden durch unsere von unerfüllter Sehnsucht überreizte Phantasie jeweils hinzugesetzt wird." Daher die Rubrik "Gesehen" (?) in Stadtzeitungen, weil die Menschen sich nicht damit abfinden können, daß "die Reize der Vorübergehenden im allgemeinen im direkten Verhältnis zur der Schnelligkeit ihres Entschwindens stehen." Vielleicht ist es eine höhere Form von Genußfähigkeit, sich damit zufrieden zu geben, im Gedächtnis Bilder von Frauen zu sammeln, die man nie wiedersehen wird. "...ich bin niemals im Leben so begehrenswerten Frauen begegnet wie an den Tagen, da ich mich in Gesellschaft irgendeiner gewichtigen Persönlichkeit befand, die ich trotz aller Vorwände, welche ich ersann, nicht verlassen konnte..." Oder in Gesellschaft der Freundin, die wie ein besonders günstiges Licht alle anderen Frauen schöner aussehen läßt, als sie sind. "...ein paar Jahre nach diesem ersten Sommer in Balbec machte ich in Paris eine Wagenfahrt mit einem Freunde meines Vaters, und als ich eine Frau bemerkte, die mit eiligen Schritten durch die Dunkelheit ging, dachte ich, wie sinnlos es doch sei, aus bloßen Schicklichkeitsgründen meinen Teil an Glück in dem einzigen Leben, das uns zweifellos beschieden war, einfach daranzugeben, und ohne ein Wort der Entschuldigung abspringend, machte ich mich auf die Suche nach der Unbekannten, verlor sie an jeder Kreuzung zweier Straßen, fand sie in einer dritten wieder und stand endlich völlig außer Atem vor der alten Madame Verdurin, der ich überall aus dem Wege ging und die freudig überrascht in die Worte ausbrach: 'Oh! Wie liebenswürdig von Ihnen, daß sie so gelaufen sind, nur um mir guten Tag zu sagen.'" Und wenn die Freundin das nächste mal sagt: "Warum mußt du dich immer nach allen Frauen umdrehen?" wird man antworten: "Hast du nicht Proust gelesen?" Ein Milchmädchen, "das von einem Bauernhof eine Extralieferung an Rahm ins Hotel brachte" fällt ihm auf. Als am folgenden Tag ein Brief für ihn eintrifft, ist er überzeugt, er werde von ihr sein. Aber dann ist er nur von Bergotte, immerhin ja seinem Idol: "Ich war grenzenlos enttäuscht, und der Gedanke, es sei schwieriger und schmeichelhafter, einen Brief von Bergotte zu bekommen, tröstete mich nicht darüber, daß dieser nicht von dem Milchmädchen war." In der zum Klischee geronnenen Dramaturgie der romantischen Komödie pflegt in diesem Moment die Mutter anzurufen. Eine andere sieht er im Dorf, mit einem "kleinen Eimer mit Fischen" (erst eine Extralieferung Rahm, dann ein Eimer mit Fischen, wenn das keine Steilvorlagen für Vulgärpsychologen sind): "Doch nicht nur ihren Körper hätte ich [mit meinen Lippen] anrühren mögen, sondern auch die Person, die sie im Innersten war und mit der es nur eine Form des Anrührens geben konnte, die darin bestand, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und nur eine Art, in sie einzudringen, nämlich die, in ihr einen Gedanken zu wecken." Narzißtische Kränkung des Egozentrikers, Besitz ergreifen vom Ego des anderen, wird man darum Schriftsteller? "Das Innere der schönen Fischerin war mir offenbar noch verschlossen, ich zweifelte, ob ich in ihr Bewußtsein eingedrungen sei, selbst nachdem ich bemerkt hatte, wie mein Bild sich flüchtig im Spiegel ihrer Augen abzeichnete mit einem Brechungseffekt, der mir genauso fremd blieb, als wäre ich in das Blickfeld einer Hirschkuh geraten." Oh, demütigender Brechungseffekt (Naturwissenschaft...) im Blickfeld all der Hirschkühe, denen man täglich begegnet! Er will ihr nun etwas sagen, das "mir nicht nur Aufmerksamkeit eintrüge, ja Verlangen sogar, und das Mädchen zwingen möchte, die Erinnerung an mich bis zu dem Tag zu bewahren, da ich sie wieder träfe." Das kann natürlich nicht einfach "Und was studierst du?" sein. Er gibt ihr stattdessen Geld (!) und bittet sie, für ihn zur Konditorei zu gehen, wo der Wagen der Marquise de Villeparisis stehen müßte. Davon erhofft er sich, daß sie "eine große Meinung" von ihm bekommt. "Aber als ich die Worte 'Marquise' und 'zwei Pferde' ausgesprochen hatte, kam bereits eine große Beruhigung über mich. ich spürte, daß die Fischerin sich an mich erinnern würde, und mit der Angst, ich würde sie nicht wiederfinden können, schwand auch schon in mir der Wunsch, sie überhaupt später noch einmal zu sehen." Ist das nun ein Sieg oder eine Niederlage? "Dies Besitzergreifen von ihrem Geist, dies außerhalb des Materiellen stehende Gefügigmachen hatte ihr so viel von ihrem Geheimnis genommen wie der physische Akt." Man erinnert sich, wie geschickt Odette Swann nie das Gefühl gegeben hat, von ihrem Geist Besitz ergriffen zu haben, so daß er sie schließlich heiraten mußte. Daher die Vorstellung, Männer seien Romantiker, die ihren Impulsen nachgeben, während Frauen, im Wissen, wie wenig haltbar diese Impulse sind, geschickt taktieren, um auf ihre Kosten zu kommen. Direkt nach diesem Erlebnis schenkt ihm der Zufall die nächste Madeleine. Wieder sitzt er im Wagen, und als seien sie eines dieser unerreichbaren Mädchen, fährt er an drei Bäumen vorbei, die ihn an irgendetwas erinnern. Etwas "worüber ich keine Macht besaß" verdecken sie in seinem Geist. Nun bräuchte er Einsamkeit, um dem nachzugehen. "Ich erlebte die Wiederkehr jener Art des Genusses, die allerdings vom Denken ein Arbeiten an sich selbst verlangt, neben der aber die Annehmlichkeit schlaffen Sichgehenlassens, mit dem man darauf verzichtet, nur höchst mittelmäßig erscheint." Es ist nämlich Arbeit und kein Sichgehenlassen, sich äußerlich bewegungslos, mit seinen Erinnerungen zu befassen, und man ist davon am Ende eines Tages genauso erschöpft, wie von einer Schicht am Band, vielleicht sogar noch erschöpfter, weil geistige Arbeit einen nie ganz befriedigt, sich nie ganz abschließen läßt. Man müßte eigentlich in seiner Freizeit am Band arbeiten, um sich von der Erinnerungsarbeit zu erholen. Er hält sich heimlich die Augen zu und konzentriert sich, wo hat er die drei Bäume gesehen? Stammen sie "aus dem vergessenen Buch meiner Kindheit"? Oder war es eine jener Traumlandschaften "die immer die gleichen sind [..] Objektivierung meines Bemühens vom Vortage"? Oder hat er vor kurzem davon geträumt? Oder hat er sie nie gesehen, und sie verbergen einen schwer zu erfassenden Sinn? Oder ist er nur müde und sieht Dinge in der Zeit doppelt, "wie man es manchmal im Raum tut"? Sind es "Kindheitsgefährten, entschwundene Freunde, die die Dinge, die wir gemeinsam erlebt, in mir wachrufen wollten? [..] In ihren naiven, leidenschaftlich bewegten Gebärden glaubte ich die ohnmächtige Trauer eines geliebten Wesens zu erkennen, das den Gebrauch der Sprache verloren hat, das fühlt, es werde uns nicht sagen können, was es ausdrücken will und was wir nicht zu erraten vermögen." Aber bevor er das Rätsel lösen kann, entführt ihn der Wagen hinter die nächste Biegung und mit den Bäumen wird "ein ganzer Teil deiner selbst, den wir dir bringen konnten, für immer verloren sein." Verlorene Praxis: - als Mädchen sonntags in seinen besten Kleidern vor der Kirche stehen und den vorübergehenden Burschen neckende Worte zurufen.
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