Schmidt liest Proust
Freitag, 25. August 2006

Oderbruch - II S.279-300

Die erste von zahllosen Erkältungen des Herbstes und Winters kündigt sich an. Natürlich habe ich alles getan, um das zu verhindern. Wenn ich denke, was ich leisten würde, wenn ich nicht unter diesem Körper zu leiden hätte. Ich hatte immer die Hoffnung, die Bakterien würden irgendwann das Vergnügen daran verlieren, einem Halbtoten zuzusetzen, aber wer kann sich schon in ihre perversen Hirne versetzen, vielleicht spielen sie auch mit mir, wie eine Katze mit einer elenden, kaum mehr zu Fluchtversuchen fähigen Maus.

S.279-300 Die Hälfte der Abendsonne bekommt die Statue der Heiligen Jungfrau des Kirchenportals von Balbec ab, der Marcel so entgegengefiebert hat, und die andere Hälfte die Filiale der Diskontbank. So geht das natürlich nicht. Gut daß er nicht lesen muß, wie die Bretagne heute an vielen Stellen aussieht. Selbst schuld, wer verreist! Der Einzug ins Palace-Hôtel von Balbec, der Ort, "an den mein Leib sich gewöhnen sollte." Der Direktor schätzt bei den Gästen an äußeren Anzeichen ein, ob es sich um "höhere" handelt: "...daß jemand nicht den Hut abnahm, wenn er die Halle betrat, Knickerbocker trug, einen auf Taille gearbeiteten Paletot anhatte, eine Zigarre mit einer gold und purpurnen Bauchbinde einem Etui aus gepreßtem Maroquinleder entnahm..." Und Marcel erfüllt keines dieser Kriterien. Der Direktor läßt ihm und seiner Großmutter seine Aufmerksamkeit nur "vor sich hin pfeifend zuteil werden" (wieder so ein Kafka-Moment, die seltsame Dreistigkeit des Personals) Marcel sitzt derweil im Sessel und nimmt "Zuflucht zu den verborgensten Bezirken meines Innern, ich versuchte es mit Abwanderung ins Reich der ewigen Werte, zog alles Persönliche, alles Lebendige von der Oberfläche meines Körpers weg – bis sie fühllos wurde wie die der Tiere, die sich totstellen, wenn man sie verletzt -, um nicht zu sehr an diesem Ort zu leiden..." Eine in vielen Lebenslagen nützliche Übung, wobei es auch hilft - Proust konnte das natürlich noch nicht -, Proust zu lesen. Eigentlich will er die Großmutter bitten, gleich nach Paris zurückzureisen, weg von diesem "Ort der Qualen – wie jeder neue Wohnort es ist..." Ein Liftboy "glitt mit der Gelenkigkeit eines emsigen, gefangenen und gezähmten Eichhörnchens zu mir herab." (Kafka...) Er sieht im Vorübergehen ein Zimmermädchen mit einem Keilkissen im Arm: "Ich paßte ihrem für mich im Dunkel undeutlich gewordenen Gesicht die Maske meiner leidenschaftlichsten Träume auf, las aber in ihrem Blick, als er sich mir zuwendete, nur das Grauen des Nichts, das ich war." (Wie oft haben wir in den Blicken von Kellnerinnen das Grauen des Nichts, das wir sind gelesen!) Das ganze Hotel und sein Personal sind für Marcel "wie alles, was wirklich geworden ist, phantasietötend." "Ich hätte mich gern wenigstens einen Augenblick auf meinem Bett ausstrecken mögen, aber wozu, da ich dort doch nicht jener Vielheit der Empfindungen hätte Ruhe gebieten können, in denen für jeden von uns das Körperbewußtsein enthalten ist, wenn nicht der Körper selbst; da aber die unbekannten Gegenstände rings umher diesen zwangen, seine Wahrnehmungen im Zustand permanenter Abwehrbereitschaft zu halten, wurde mein Gesicht und Gehör, alle meine Sinne zu einer so gedrückten und unbequemen Lage (selbst bei ausgestreckten Beinen) verurteilt, wie die des Kardinals La Balue in dem Käfig es war, in dem er weder stehen noch sich setzen konnte." Menschen im Hotel, mein Körper, der nichts ist als eine "Vielheit der Empfindungen", wie weit ist es gekommen, wenn er sich "selbst bei ausgestreckten Beinen" wie in einem Folterkäfig fühlen muß! Man kennt das, wenn man wie ein präparierter Käfer auf dem Hotelbett liegt, der Bauch aufgebläht vom schlechten Essen der Reise, die Haut reagiert gereizt auf das ungewohnte Gefühl der Decken und Laken, im Bad pfeift ein unregulierbarer Luftabzug und aus einem ersten verzweifelten Erschöpfungsschlaf, der mehr einer Art Ohnmacht gleicht und eher auslaugt als erfrischt, weckt einen der Darminhalt des Nachbarn von oben, der durch das Fallrohr jagt, das am Kopfende des Bettes in mehreren überflüssigen Windungen durch das Zimmer führt. Aber das sind alles nur Nebensächlichkeiten, man würde sich auch in der besten Suite des Palace-Hôtel zu Balbec nicht anders fühlen, die Gewohnheit hat ihre Arbeit noch nicht getan. "Unsere Aufmerksamkeit füllt ein Zimmer mit Gegenständen an, doch unsere Gewohnheit läßt sie wieder verschwinden und schafft uns selber darin Platz." Anders könnte ich es in den Wohnungen, in denen ich aus Mangel an Organisationstalent mein Leben verbringen muß auch nicht aushalten. Die violetten Vorhänge "...gaben dem besonders hohen Zimmer einen historischen Zug, der es für die Ermordung des Herzogs von Guise und spätere Besichtigung durch Touristen unter Führung eines Cook-Angestellten geeignet machte, doch keineswegs dafür, daß ich darin schlief." Quälend wirkt auf Marcel "...ein großer Spiegel, der schräg im Zimmer stehengeblieben war und vor dessen Verschwinden aus dem Raum mir keine Entspannung für mich denkbar schien." Nein, das kann niemand verlangen! "...bis ins innerste Gebein von Fieber heimgesucht, war ich ganz allein und hatte Lust zu sterben." Welche geheimen Kraftreserven einen in Hotels vor diesem naheliegenden Schicksal bewahren, ist mir auch nicht klar. Die Inneneinrichtung der meisten deutschen Hotels grenzt an Sterbehilfe. Proust beschreibt hier exakt den Zustand, in dem sich der Autor in seinem Hotelzimmer vor einer Lesung in Lüneburg, Köln oder Bamberg befindet, vielleicht sollte man noch hinzufügen, daß der vorherige Gast Kettenraucher war und der Geruch des Badezimmers einen an die Zeit als Zivi auf der Urologie des Hedwigs-Krankenhauses erinnert. Aber leider tritt bei uns dann nicht Marcels rettende Großmutter ein: "...alles, was mein war, meine Sorgen, mein Wollen, das wußte ich, würde bei meiner Großmutter durch ihr stärker als mein eigener Selbsterhaltungstrieb entwickeltes Bedürfnis, mein Leben zu erhalten und seine Kraft zu mehren, wunderbar gestützt..." Sie schiebt ihr Bett im Nebenzimmer so an die Wand, daß sie ihn jederzeit klopfen hören wird: "Auch, wenn mein Spatz an die Wand nur pickte, würde die Großmama wissen, daß er es war, so einzig und so kummervoll, wie er ist." Das Unbehagen ist keine Marotte, es hat einen philosophischen Hintergrund: "Vielleicht ist das Grauen, das ich empfand – und das auch viele andere verspüren -, wenn ich in einem unbekannten Zimmer schlafen sollte, nur die bescheidenste, dumpfe, körperbedingte, unbewußte Form jenes großen verzweifelten Widerstandes, den die Dinge, die das Beste unseres gegenwärtigen Lebens ausmachen, unserer geistigen Bereitschaft entgegensetzen, die Bedingungen einer Zukunft zu unterschreiben, in der sie nicht vorkommen..." "...aber meine Vernunft stellte sich eben vor, daß ich ohne Grauen die Möglichkeit eines Daseins ins Auge fassen könnte, in dem ich für immer von Wesen getrennt sein würde, an die ich mich nicht mehr erinnerte, und verhieß meinem Herzen dieses Vergessen gleichsam als eine Tröstung, während es doch seine Verzweiflung auf die Spitze trieb." Ein wundes Herz möchte nicht erklärt bekommen, daß der Kummer vergeht. Schon kleine Kinder wollen sich ihren Wutanfall nicht weganalysieren lassen, vielleicht entsteht ihre Identität gerade in solchen Momenten. "...daß zu dem Schmerz eines solchen Verlustes noch etwas hinzutreten wird, was uns jetzt noch fürchterlicher als jener scheint, nämlich daß wir ihn nicht als Schmerz verspüren, sondern fühllos dagegen sind; denn dann wäre unser eigenes Ich verwandelt [..] das aber wäre der wahre Tod unsere selbst, ein Tod, auf den freilich eine Auferstehung folgt, aber doch nur in Gestalt eines neuen Ich, zu dessen liebender Anerkennung die zum Sterben verdammten Teile des alten Ich sich nicht aufschwingen können." Ein Ich wird durch ein anderes abgelöst, entscheidungsfreudige Typen haben damit kein Problem. Bei Marcel drängt sich der Verdacht auf, daß er zu Veränderungen nur durch Unfälle und Schicksalsschläge zu bewegen ist.

Aber schon am nächsten Morgen ist alles anders, denn vom Fenster aus sieht man das Meer. Und das ist natürlich für einen Proust ein gefundenes Fressen, nachdem er lange genug mit Worten Blumen gemalt hat, kann er sich jetzt an den Wellen austoben, was uns eine kleine Ruhepause verschafft.

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