Schmidt liest Proust |
Mittwoch, 23. August 2006
Oderbruch - II S.235-259 jochenheißtschonwer, 23.08.06, 21:21
Mein Vater will unbedingt die Ruinen seines elterlichen Familiengrundstücks in Polen fotografieren, aber es muß gutes Wetter sein, deshalb wird die Fahrt immer wieder aufgeschoben. Ich glaube, er hat das Gelände auch schon fünfmal fotografiert. Ich soll solange am Auto warten, damit es nicht geklaut wird (was eher schmeichelhaft für dieses Auto wäre. Und es war auch schon von einem Fall zu hören, wo ein Auto mit darin sitzendem Großvater geklaut wurde), während er durch den Fluß watet und durch Dornenhecken und Müllhalden zur Westseite des Gartenhauses vordringt. Dieses vorwiegend auf die eigenen Ruinen fixierte Interesse habe ich wohl von ihm geerbt, und ich habe mich nur fortgepflanzt, um später jemanden zu haben, den ich zu meinen Ruinen hinschleifen kann. Wenn Almodóvar wieder in La Mancha dreht, der Heimat seiner Mutter, wird das als große künstlerische Geste gefeiert und niemand verlangt von ihm, sich von den rückständigen, abergläubischen Verhältnissen in seinem Dorf zu distanzieren. Aber die DDR ist keine spanische Region, deshalb wird man sich in Deutschland immer dafür rechtfertigen müssen, wenn man "Plattenbau" schreibt, ohne vorher "Diktatur" gesagt zu haben. Als hätte man nur das Recht, eine Liebesgeschichte zu schreiben, wenn man im Vorwort an die vielen aus Liebeskummer in den Suizid Getriebenen erinnert. S.235-259 Die vorerst letzte Etappe der Gilberte-Episode, ich hoffe, er hat sich anschließend nicht mehr in allzuviele Frauen verliebt, wenn er jedes Mädchen, bei dem er regelmäßig Tee getrunken hat, so ausführlich behandelt (ohne eigentlich viel über sie selbst zu sagen), schafft er es mit dem Text nicht mehr bis zu seinem Tod. Marcel greift zur selben Methode, wie jemand, der sich das Rauchen abgewöhnen will, er versucht, nicht an Gilberte zu denken: "Solche Bewußtseinszustände, denen das geliebte Wesen fern bleibt, stellen, wie klein auch der Raum sein mag, den sie zunächst in Anspruch nehmen, dennoch ebensoviel an Terraingewinn der Liebe gegenüber dar, die früher die ganze Seele für sich allein bewohnte." Aber zumindest im Traum passiert es einem ja auch nach Jahren noch, daß man an einer Zigarette zieht. Wie dumm, daß er auf seine Diplomatenlaufbahn verzichtet hat, um immer in ihrer Nähe zu sein: "Man richtet sein Leben ein für eine Person, die, wenn man sie endlich darin empfangen könnte, gar nicht erscheint und für uns schon gestorben ist; man selbst aber lebt als Gefangener in dem, was nur für sie bestimmt war." Ich erinnere mich an einen Erasmus-Platz in Pisa, auf den ich "für eine Person" verzichtet habe, man sollte nie auf etwas verzichten, es zahlt sich nicht aus (es kann sich allerdings gut machen, auf etwas zu verzichten, was man ohnehin nicht richtig wollte, und den Verzicht zu groß herauszustellen). Den Schluß dieses Teilbuchs bildet eine Apotheose Odettes und der Art, wie sie in ihrer Toilette den Bois de Boulogne beehrt. Ein Abschied von einem Typ Frau, den Marcel in ihr verkörpert sieht. Umrahmt von Männern, "als blicke sie durch ein Fenster", erscheint sie auf ihrer Flanierstrecke, immer etwas spät. Sie ruft dann "...die Erinnerung an ihre Räume wach, in denen sie einen so langen Morgen verbracht hatte". Ich sehe mich noch auf ähnliche Art Seminarräume betreten. "...wie nahe sie [ihren Räumen] verhaftet war, schien sie durch die Art ihres Gehens anzuzeigen, das in seiner müßig sich wiegenden Ruhe an die paar Schritte erinnerte, die man in seinem Garten tut..." Jedenfalls, wenn man einen Gärtner hat, der einem regelmäßig die Kompostgrube aushebt und die Wege mulcht. "Wenn Madame Swann zu Fuß ging, sah sie mit ihrem bei der Wärme verlangsamten Schritt ganz so aus, als beginge sie eine elegante Übertretung des Protokolls wie ein regierender Monarch, der, ohne jemand um Rat zu fragen, begleitet von der etwas schockierten Bewunderung eines Gefolges, das keine Kritik zu üben wagt, die Galaloge verläßt und sich im Foyer für ein paar Minuten unter die übrigen Theaterbesucher mischt." Ist je eine Freundinnenmutter so gefeiert worden? "Junge Männer, die vorübergingen, schauten ängstlich zu ihr hin, in Ungewissheit darüber, ob ihre vagen Beziehungen zu ihr (um so mehr, als sie kaum ein einziges Mal Swann vorgestellt worden waren, so daß sie fürchten mußten, er erkenne sie nicht) genügten, ihr einen Gruß zu entbieten. Nur bebend vor den Folgen entschlossen sie sich dazu und fragten sich dabei, ob diese provozierend kühne und frevlerische Geste, die offenbar einem Vorstoß gegen die unverletzliche Suprematie einer Kaste glich, nicht Katastrophen entfesseln oder ein göttliches Strafgericht auf sie herabziehen würde." Genau so fühlt man sich manchmal bei der "Chaussee der Enthusiasten", wenn ein Zuschauer einem an der Kasse "bebend vor den Folgen" eine Frage stellt.
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