Schmidt liest Proust
Montag, 21. August 2006

Oderbruch II - S.192-213

Das Rumpeln einer Schubkarre auf dem Hof. Der Klang der Stubenfliege, der immer der gleiche bleiben wird, ohne irgendwann altmodisch zu wirken. Auch das Layout der Landschaft muß nicht relauncht werden. Ein Haus, in dem jede Veränderung stören würde, bis hin zur Dose Anti-Mücken-Spray aus dem VEB Aerosol-Automat Karl-Marx-Stadt, die seit 30 Jahren im Badezimmer an derselben Stelle steht und nie benutzt wird. Wer gibt mir das Recht, sie jetzt noch wegzuwerfen? Jedes Detail im Haus ist eine Lösung für ein Wohnproblem, das sich früher einmal gestellt hat, und auch, wenn man das Problem nicht mehr kennt, weil die Erbauer des Hauses längst nicht mehr leben, muß man die Lösung respektieren. Wenn es nach mir ginge, dürfte nur bastelnd eingegriffen werden, also eine Lösung mit vorgefundenem Material, die von Anfang an provisorisch wirkt, aber über Jahre ihren Zweck erfüllt. Der Wind kündigt den Herbst an, vor 9 Jahren habe ich um diese Zeit hier den letzten Versuch gestartet, ein Buch anzufangen, ohne diesen Ort hätte ich es vielleicht nie getan. Ich wüßte gerne, was Proust angetrieben hat, schließlich doch noch zu schreiben, wenn er doch offenbar reich war, Unterhaltung und ein angenehmes Leben hatte. Ein verwöhntes Einzelkind, das dennoch irgendwann den einsamen Lustgewinn beim Schreiben jedem anderen vorzieht.

S.192-213 Hat Proust nicht eben erst ein halbes Buch lang von einer unglücklichen Liebe erzählt? Und jetzt schon wieder dasselbe Hin und Her, ohne daß man das Gefühl hätte, er würde sich wiederholen, aber auch ohne, daß daran viel erzählenswert wirkt. Marcel sieht Gilberte täglich, sie bekommt ihn satt, und er zieht sich zurück und leidet, na gut. Er hofft auf die Morgenpost und dann auf die Nachmittagspost. Die Aufregung wird schließlich chronisch, weil "...die durch das Warten verursachten Störungen kaum Zeit gehabt hatten, sich etwas zu legen, wenn bereits ein neuer Anlaß zum Warten da war und es schließlich keine einzige Minute am Tage mehr gab, in der ich mich nicht in einem Zustand der Spannung befand, wie er schon eine Stunde lang schwer zu ertragen ist." Was soll man da heute sagen, mit E-Mail und SMS? Teuflische Erfindungen, wenn man unglücklich verliebt ist, weil sie den "Zustand der Spannung" auf den ganzen Tag ausdehnen. Moderne Kommunikationstechnik erzeugt nicht nur Kommunikation, sondern, weil sich potentiell ja pausenlos kommunizieren ließe, auch das ständige Gefühl, nicht zu kommunizieren. Um Gilberte zu beweisen, daß er auch ohne sie kann, besucht Marcel regelmäßig Odettes Salon, ohne Gilbertes gleichzeitige Teegesellschaft zu beehren: "Jeder Besuch, den ich Madame Swann machte, ohne Gilberte zu sehen, war grausam für mich, aber ich fühlte, daß er um ebensoviel das Bild verschönte, das Gilberte von mir in ihrer Vorstellung trug." Wie schön kommt man sich vor, wenn man unglücklich verliebt ist, edel im Verzicht und aufnahmebereit für feinste Erschütterungen der Seele. Jeder anderen würde das auffallen. Leider fängt er nichts mit Odette, der Mutter der Geliebten an. "Eine große Kokotte, wie sie es gewesen war" (immer noch ist mir der Unterschied zur Prostituierten nicht ganz klar). "Der Höhepunkt ihres Tages ist nicht der Augenblick, da sie sich anzieht, um in Gesellschaft zu gehen, sondern derjenige, da sie sich für einen Mann entkleidet. Sie muß im Negligé, im Nachthemd, so elegant sein wie in der Toilette, in der sie in die Stadt gehen will." Was die Damen in Odettes Salon besprechen, kann man zum Glück höflich übergehen. Wie tragisch es sei, mit einem Politiker verheiratet zu sein, und deshalb immer mit langweiligen Leuten aus den Ministerien zu tun zu haben. "Und dann sehen Sie, Madame, ist da der Chef des Protokolls, der einen Buckel hat; ich kann einfach nicht anders, wenn er noch keine fünf Minuten bei uns ist, muß ich seinen Buckel berühren." Ob man seine Pflanzen bei Lemaître, Debac oder Lachaume kaufen solle, ach, von mir aus auch bei Blume 2000. Und Gebäck: "...ich weiß, sie beziehen alles von Rebattet. Ich muß sagen, ich verfolge da eine eklektischere Methode. Petits Fours, überhaupt alle Kleinigkeiten, kaufe ich oft auch bei Bourbonneux. Aber ich gebe zu, von Eis verstehen sie dort nichts. Für Bavaroise und Sorbet ist Rebattet der Künstler." Proust vollbringt immerhin die bewundernswerte Leistung, sich über solche Probleme nicht lustig zu machen.

Verlorene Praxis: - sich die Mühe machen, sein Personal von Grund auf zu erneuern.

  • Sich in jener wichtigen Kunst üben, die "obwohl sie das Leben nur mit Nuancen tönte, den leeren Raum modellierte und im wahrsten Sinne eine Kunst des Nichtigen war: die Kunst (der Gastgeberin), die Leute 'zusammenzubringen', die richtigen 'Gruppen zu bilden', jemand 'herauszustellen', sich selbst ganz 'auszuschalten' und nur als 'Bindeglied' eine Rolle zu spielen." Der Grund für die monotone Ödnis der meisten heutigen Partys, weil sich kein Gastgeber mehr dazu verpflichtet fühlt, den leeren Raum um seine Gäste zu modellieren.

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