Schmidt liest Proust |
Samstag, 19. August 2006
Oderbruch - II S.151-171 jochenheißtschonwer, 19.08.06, 22:38
S.151-171 Die erste Begegnung mit einem vergötterten Autor (vergleiche: Jochen Schmidt: "Wie mich mal Heiner Müller traf", in: Frische Goldjungs), Marcel kommt nicht darüber hinweg. Warum leuchtet es in den Büchern von uns Autoren so viel mehr, als in unserer Rede? Weil "...solch Anleuchten aus großen Tiefen kommt und seine Strahlen nicht bis zu dem emporsendet, was wir in Stunden sagen, da wir, den anderen weiter geöffnet im Gespräch, uns selbst gegenüber bis zu einem gewissen Grade verschlossen bleiben." Das wirft Zweifel auf am Sinn, den es haben kann, zwischen Autor und lyrischen Ich zu unterscheiden, wie man es im Deutsch-Leistungskurs beigebracht bekommt. Denn wo wäre der Autor mehr er selbst, als im Text? Autoren, die ihre Texte von sich fernhalten können, wie einen Abwaschlappen, den man nur mit zwei Fingern anfaßt, sind für mich keine Autoren, sondern Dienstleister. Es ist also auch ganz überflüssig, wenn Journalisten Autoren porträtieren, weil schon den Autoren das nicht anders gelingt, als mit dem Verfassen von Fiktion. Und wenn die Autoren ihre Erscheinung als eine Art Kommentar zu ihrem Werk verstehen, überlassen sie an ihr nichts dem Zufall, und senden sehr deutliche Zeichen aus. Trotzdem sind Journalisten, um einen Arbeitsnachweis zu erbringen, immer darauf erpicht, irgendetwas Uninszeniertes am Autor zu entdecken, als seien sie nicht schon damit überfordert, das Bild, das man ihnen liefert, vernünftig wiederzugeben. Normalerweise reicht ihre Beobachtungsgabe dann nicht über die Art des Getränks hinaus, das man im Gespräch mit ihnen bestellt hat, und über das sie den Leser informieren zu müssen meinen. Es gibt einen Tonfall in Büchern, der allein den Autor ausmacht: "Dieser Akzent erscheint nicht im Text, er wird nirgends durch Zeichen markiert und tritt doch unversehens zu den Sätzen hinzu, man kann sie nicht anders lesen; er ist das Allerflüchtigste bei dem Schriftsteller und das Tiefste zugleich; nur er kann wirklich Zeugnis ablegen von der Natur des Autors und sagen, ob dieser trotz aller Härten, die er ausgesprochen hat, sanft, und trotz aller Sinnlichkeit gemütvoll gewesen ist." Nicht durch Zeichen markiert, aber doch zwingend so zu lesen, eigentlich ja ein Widerspruch. Eine Art sich von selbst ergebender, einzig möglicher Interpretation für eine Partitur. Aber man muß Lou Reed gehört haben, um seine Stimme hinter den Noten zu vernehmen, in denen sie nicht durch Zeichen markiert ist, sollte das bei Texten anders sein? Und man muß natürlich auch ein mündiger Zuhörer sein, um zu bemerken, daß ein Autor "...trotz aller Härten, die er ausgesprochen hat, sanft, und trotz aller Sinnlichkeit gemütvoll gewesen ist". Oft genug liest man im Gästebuch der "Chaussee der Enthusiasten" das Gegenteil, weil jemand das Allerflüchtigste und das Tiefste an einem Text nicht bemerkt hat, und dachte, es handle sich einfach um zynischen Schweinekram. Ein Trost für alle, die dachten, sie eigneten sich wegen mangelnder Intelligenz oder stockender rhetorischer Qualitäten nicht zum Autor: "Doch das Genie, sogar schon das große Talent leitet sich weniger aus Faktoren der Intelligenz oder speziellen Verfeinerung her, welche die der anderen in den Schatten stellen, als aus der Fähigkeit, sie umzuwandeln, sie zu transponieren. Um eine Flüssigkeit mit einer elektrischen Lampe zu erhitzen, braucht man nicht eine extra starke Lampe, sondern eine, in der der Strom nicht mehr Licht, sondern nach einer entsprechenden Umformung eben mehr Wärme spendet. Um sich in den Lüften zu ergehen, braucht man nicht ein denkbar kräftiges Automobil, sondern eines, das die Erde verlassen, die Linie, welche es vordem verfolgte, zur Vertikalen umbiegen und die Geschwindigkeit seiner Bewegung in der Ebene in Auftriebskraft verwandeln kann. Ebenso sind diejenigen, die geniale Werke hervorbringen, nicht Menschen, die in dem feinsinnigsten Milieu leben, in der Unterhaltung glänzen, über die breiteste geistige Kultur verfügen, sondern die, welche die Kraft gefunden haben, von einem gewissen Augenblick an nicht länger für sich selbst zu leben, sondern ihre Persönlichkeit zu einem Spiegel zu machen, der ihr Dasein, mag es auch gesellschaftlich und in gewissem Sinne sogar geistig betrachtet noch so mittelmäßig sein, reflektiert; denn das Genie besteht in solcher Kraft des Zurückstrahlens und nicht in der Qualität, die dem widergespiegelten Geschehen von sich aus innewohnt." Wieder muß eine Metapher aus der Technik herhalten, der Neurastheniker Proust hat da erfreulicherweise keine Berührungsängste. Der Inhalt an Büchern wird also überschätzt, es kommt nicht auf die Qualität des widergespiegelten Geschehens an (das bedeutende Thema, den Plot, den großen romanesken Entwurf), sondern auf die Kraft des Zurückstrahlens. Auch das ist leider eine Journalisten mit ihrer berufsbedingten, vergröberten Reizempfindlichkeit fremde Einsicht. Und auch zur Frage, ob Günther Grass, wegen seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft das Recht verwirkt hat, moralische Urteile abzugeben, äußert sich Proust: "Vielleicht kann sich nur in einem Leben, das wirklich lasterhaft ist, das moralische Problem in seiner ganzen beängstigenden Schwere stellen. Diesem Problem aber gibt der Künstler eine Lösung nicht im Rahmen seines individuellen Daseins, sondern auf der Ebene dessen, was für ihn das wahre Leben ist, also eine allgemeine literarische Lösung. Wie die großen Kirchenlehrer oft, während sie selber gut waren, doch aus der Kenntnis der Sünden aller Menschen ihre persönliche Heiligkeit zogen, so benutzen vielfach die großen Künstler, während sie selber schlecht sind, ihre Laster, um eine für alle gültige Regel im Moralischen zu gewinnen." Nach 35 Jahren lese ich diese Stelle ausgerechnet in der Woche, in der sie aktuell wird. Da ich nicht glaube, daß Günther Grass mit seiner Beichte bewußt so lange gewartet hat, daß sie mit meiner Proust-Lektüre zusammenfällt, bleibt es etwas mysteriös. Wenn Bergotte in der anschließenden Diskussion über die Berma zu Swann und Marcel sagt: "...in der Szene, wo sie Oenone ihre Leidenschaft eingesteht und wo sie mit der Hand die Geste der Hegeso auf der Stele des Kerameikos wiederholt..." kann ich nicht mehr mithalten. Ich suche auch noch nach einem Freundeskreis, bei dem man sich durch so eine Ausdrucksweise nicht unbeliebt macht. Und nun auch noch Habermas: "Ein starker Gedanke teilt auch dem, der anderer Meinung ist, von seiner Kraft etwas mit. Da er ein Teil der Wirkwelt des Geistes ist, schiebt er sich, impft er sich auch in den Geist des Gegners zwischen verwandten Ideen ein, mit deren Hilfe dieser nun, indem er irgendeine gute Seite des gegnerischen Arguments aufgreift, es vervollständigt oder richtigstellt, so daß schließlich das Endurteil über eine Sache gewissermaßen das Werk der beiden Kontrahenten ist." Genese des Genies, Schreiben und Moral, kommunikative Vernunft, alles auf 20 Seiten. Aber es kommt auch noch eine Empfehlung von Swann, für alle, die unter unkontrollierbarer Eifersucht leiden: "Nervöse Männer sollten immer 'unter ihrem Stande' lieben, wie man im Volke sagt, damit die Frau ihrer Wahl ein eigennütziges Interesse daran hat, stets in ihrer Nähe zu sein." Aber wer ist heute überhaupt noch unter dem Stand eines freischaffenden Autors? Verlorene Praxis: - zu jemandem sagen: "Mein Gott, wie Ihre Anwesenheit das Niveau der Unterhaltung hebt!"
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