Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 17. August 2006
Oderbruch - II S.109-130 jochenheißtschonwer, 17.08.06, 19:05
Man kann der Moderne viel vorwerfen, aber nur der Erfindung von Plaste ist es zu verdanken, daß meine Tochter heute mit demselben Kipper spielen kann, wie ich als Kind. Im Spielzeugbereich war die DDR ziemlich unverwüstlich, vielleicht hätte man die Mauer auch aus Plaste bauen sollen, dann würde sie noch stehen. Dann wäre auch garantiert, daß meine Tochter in ihrem Leben genau dasselbe erlebt, wie ich, was ich so nicht garantieren kann. Ich bin nämlich eifersüchtig darauf bedacht, ihr meine eigenen Freuden aus der Kindheit nahezubringen, dabei wird man damit leben müssen, daß sie sich gerade an die häßliche Puppe erinnert, bei der man nicht verhindern konnte, daß irgend jemand sie ihr schenkt. Wie der Erbe eines Firmenimperiums, der die Tradition des Hauses aufgibt, um statt dessen Tanzkritiker zu werden, so zieht sie dem "Kleinen Angsthasen" "Die kleine Raupe Nimmersatt" vor, ein Werk, das sich mir für immer verschließen wird, weil ich es als Kind nicht hatte. Der Geist der Revolte. Ich hatte immer Mitleid und Bewunderung für jemanden, der in der fünften Generation Fährmann ist und mit den Handgriffen seiner Vorväter den alten Kahn zum anderen Ufer stakt. Was für eine seelische Belastung für den, der schließlich mit der Tradition brechen wird. Wenn man keine solche Verantwortung gegenüber den Vorgängern, die ihre Träume für die Familientradition geopfert haben, empfindet, hat man in der Literatur nichts verloren, schreiben heißt lesen. S.109-130 Wenn Odette ungeschickte Bemerkungen macht, versucht Swann nicht, sie zu korrigieren "aus einem Rest von Zärtlichkeit, Mangel an Achtung oder weil er zu träge war, sich ihrer Vervollkommnung zu widmen." Ihn erheitern ihre dummen Geschichten, während alles Scharfsinnige und Tiefgründige, was er vorbringt "von Odette ein für allemal ohne Interesse, flüchtig und mit Ungeduld aufgenommen und häufig unnachsichtig angegriffen wurde. [..] Man muß zu dem Schluß kommen, daß eine solche Unterwerfung der Elite unter die Gewöhnlichkeit in vielen Ehen die Regel ist, wenn man bedenkt, wie viele hochkultivierte Frauen umgekehrt sich von einem Grobian betören lassen, der ihre zartsinnigsten Worte unerbittlich aburteilt, während sie sich mit der unendlichen Nachsicht der Zärtlichkeit angesichts seiner dummen Späße vor Entzücken nicht zu lassen wissen." Das klingt jetzt wie zur Ehrenrettung der Frauen gesagt, aber ob sie nun einen klugen Mann mißachten, oder sich einem Grobian unterwerfen, spricht doch beides nicht für sie. Im Grunde sind solche Verhältnisse zwischen zwei Menschen Ungerechtigkeiten, die genauso in den Nachrichten vermeldet werden müßten, wie die Rechtsbeschneidungen bestimmter Bevölkerungsschichten oder die Senkung des Spitzensteuersatzes. Der Masochismus, sich einer dummen und nicht einmal schönen Frau zu unterwerfen, gerade weil sie für die eigene Klasse blind ist, hat aber auch etwas rührend-utopisches. Man glaubt eben immer noch an die Menschheit, wie soll man Despoten zu Demokraten erziehen, wenn man schon einer Frau nicht zu der Überzeugung verhelfen kann, daß man für sie ein Geschenk ist? Früher hatte Swann sich damit getröstet, ihr eines Tages, nach Versiegen seiner Liebe und Erlöschen seiner Eifersucht, endlich die Wahrheit über ihre Seitensprünge abtrotzen zu können: "...aus einfacher Liebe zur Wahrheit und gleichsam wie ein Historiker klarzustellen, ob Forcheville an jenem Tage mit ihr im Bett gewesen sei, als er geschellt und ans Fenster geklopft hatte... [..] Doch dies so ungemein spannende Problem, für dessen Aufklärung er nur das Ende seiner Eifersucht abgewartet hatte, verlor jedes Interesse in Swanns Augen, als er aufgehört hatte, eifersüchtig zu sein." Das unterscheidet dann vielleicht einen gesunden Menschen von einem Autor, der schon aus professionellen Gründen nie das Interesse für seine Probleme verlieren wird, gerade wenn sie sich längst erledigt haben. Auf die Genugtuung, ihr eines Tages seine Gleichgültigkeit gestehen zu können, legt Swann jetzt keinen Wert mehr "mit der Liebe war auch sein Verlangen geschwunden, zu zeigen, daß keine Liebe mehr in ihm war." Normalerweise überlebt das Rachebedürfnis die Liebe ja. Wenn Swann Odette nicht mehr verletzten will, muß man sich fragen, ob er sie je richtig geliebt hat. Das Gefühl, jemanden nicht zu lieben, kann aber auch daher rühren, daß man ihn liebt. Marcel kann für Swann eine tiefere Zärtlichkeit empfinden, als für Gilberte, aus Dankbarkeit dafür, daß er ihm seine Tochter gewährt, während diese sich ihm ja zuweilen entzieht: "Sie aber liebte ich und konnte sie dementsprechend nicht ohne jene Unruhe sehen oder ohne jenes Verlangen nach mehr, das einem in Gegenwart des geliebten Wesens das Gefühl der Liebe benimmt." Noch ein paar Gedanken zur Wirkungsweise von Musik, die ich schon vorher hatte, aber das läßt sich jetzt nur noch schwer beweisen. Musik lebe wie alles andere erst aus der Erinnerung, und "...bei einer etwas komplizierten Musik, die man zum erstenmal hört, hört man oft zunächst nichts." Aber "hätte man wirklich, wie man meint, beim ersten Anhören überhaupt keinen Eindruck gehabt, so würde das zweite oder dritte Anhören wiederum ein erstes Mal sein, und es wäre nicht einzusehen, weshalb beim zehnten Male plötzlich das Verstehen kommt." Auch an Musik muß sich erst die Zeit heften, damit man etwas empfindet. Und es ist wieder ganz unkontrollierbar, was für Assoziationen an die Vergangenheit sie bei einem weckt. Wie Swann über Vinteuils Sonate sagt: "Dabei führt das Thema aus der Sonate für mich nur Dinge herauf, auf die ich damals gar nicht geachtet habe." Und zwar nichts hochgeistiges, sondern den alten Verdurin "in seinem Überrock im Palmenhaus des Jardin d'Acclimatation". Die unbarmherzige, unvorhersehbare Arbeit des Gedächtnisses. Das macht die Gegenwart so unattraktiv für Literatur, man hat einfach noch nicht genug vergessen. "Doch sind die großen Meisterwerke wiederum weniger enttäuschend als unser Dasein, weil sie uns nicht am Anfang das Beste geben, was sie zu bieten haben." Das scheint ja nun auch die Maxime von Proust beim Verfassen der Recherche gewesen zu sein. "Diese Zeit übrigens, die das Individuum nötig hat [..] um in ein tief angelegtes Werk einzudringen, ist gleichsam nur die Abkürzung und das Symbol der Jahre, der Jahrhunderte zuweilen sogar, die vergehen, bis das Publikum ein neues Werk zu lieben versteht." Der ewige Trost der Erfolglosen, aber warum soll man Jahrhunderte warten, wenn man das Publikum auch zwingen kann, seine Werke zu lieben, man muß dazu nur die Regierung stürzen und mit eiserner Faust ein Programm zur geistigen Erneuerung der Nation in die Wege leiten.
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