Schmidt liest Proust
Sonntag, 13. August 2006

Berlin - II S.28-48

Nach der Rückkehr schleicht man noch ein bißchen durch die Wohnung, wie durch die eines Toten, in der man nichts anfassen oder durcheinanderbringen möchte. So habe ich also gelebt, vor zwei Wochen, wie konnte das passieren? Brutal, was man seinem emotionalen Apparat zumutet, eben war man noch in Odessa, wieder ein Ort, von dem man in Zukunft tagträumen wird. Die Fülle dieser Erinnerungsorte ist vom Gedächtnis kaum noch zu verwalten. Man müßte in seinem geistigen Archiv jede Ordnung aufgeben und sich radikal der Logik von Prousts "mémoire involontaire" überlassen, aber ich dann hätte ich Angst, daß ich ständig unanständige Sachen schreiben würde. Die Anstrengung, sich vor der Fahrt loszureißen, wie bei einer Trennung (wie Frasier, der von Boston nach Seattle zieht) die Belohnung, ein paar Tage in einem Zwischenreich, wie von einer Krankheit genesen, alles sehr gedämpft. So ein ekelhafter Begriff, wie "Weltenbummler", der das bagatellisiert. Noch eine Antwort auf die Frage, was man im Leben macht, die einem immer wie eine Hinrichtung vorkommt, weil man nicht ehrlich sein kann, ohne zu provozieren. Vielleicht: "Ich reichere Gedächtnis an."

II S.28-48 Sobald die Berma die Bühne betritt, empfindet Marcel: "...Zuschauerraum, Publikum, Schauspieler, Stück, ja meinen eigenen Leib nur als akustisches Mittel [..], dessen Bedeutung einzig darin lag, wie günstig er für die Modulationen dieser Stimme wäre..." Aber dann ist er enttäuscht von ihr, weil sie mit einem "einförmigen Singsang" spricht. Ich erinnere mich an die aufgeregte Erwartung von Ulrich Mühes "Sein oder nichtsein"-Monolog in Müllers Inszenierung am DT. Die Enttäuschung, daß er den Text nicht mit ersterbender Stimme hintupfte, sondern in einer Pfütze liegend mit geballten Fäusten in durchweg gleichem Ton eher schreiend herunterratterte. Wieder "désir triangulaire", Marcels Bewunderung für die Berma bricht erst durch, als die anderen Zuschauer leidenschaftlich applaudieren, wir begehren nur, was andere begehren. Und auch der Wow-Effekt, er klatscht mit, damit die Berma angefeuert wird, sich selbst zu übertreffen "und ich gewiß sein könnte, ich habe sie an einem ihrer glanzvollsten Tage erlebt. [..] Auf alle Fälle kam es mir, je mehr ich applaudierte, vor, als spiele die Berma immer vorzüglicher." Ein oft beargwöhntes Phänomen bei eigenen Lesungen, das Publikum berauscht sich an sich selbst, man bildet sich nicht viel darauf ein. Die Fortsetzung davon sind vielleicht die Fischerchöre, wenn das Publikum einfach selber singt. Die höchste Stufe in der Karriere des Künstlers, wenn er nur noch schweigend auf der Bühne sitzen muß, und das Publikum sich von selbst in Extase applaudiert. Eigentlich ist einem als Zuschauer natürlich der Rest des Publikums suspekt, aber Marcel berauscht sich "an dem derben Landwein der Volksbegeisterung." Nach der neuen Erfahrung des Thaters geht es nach Hause "nunmehr ins Exil".

Dort ist heute der Marquis de Norpois eingeladen, ein ehemaliger Botschafter Frankreichs und Vertreter der Glanzzeit der Diplomatie, in der "zehn Jahre andauernde Bemühungen um die Annäherung zweier Länder – in einer Rede, einem Protokoll – durch ein schlichtes Adjektiv ausgedrückt werden..." Als Politik noch Sprache war, und man in der Kunst des Toasts herausstechen konnte. Gewohnt, alle Menschen, die ihm begegnen, prüfend anzuschauen, sieht Norpois Marcel an "als sei ich ein exotischer Brauch, ein instruktives Bauwerk oder eine Diva auf Tournee." Marcel will ihm schildern, warum er früher Literat werden wollte: "...vor Erregung zitternd, litt ich bei der Vorstellung, daß nicht jedes meiner Worte ein möglichst genaues Äquivalent dessen sei, was ich gefühlt, doch nie zu formulieren versucht hatte; daraus ergab sich natürlich, daß meine Rede ganz und gar unklar blieb." Die Tragik der mit einem reichen Innenleben belasteten, sie stehen im Gespräch immer als Idioten da, nur weil sie sich nicht unter ihrem seelischen Niveau ausdrücken wollen. Entweder, man zitiert nur noch, was man schon schriftlich vorformuliert hat, oder man schweigt. Gut reden können doch nur die, denen ihre komplizierten Gedankengänge nicht ständig die Sätze verderben. Norpois kennt einen jungen Mann, der auch Schreiber geworden ist: "...und er sprach nunmehr von der uns gemeinsamen Neigung in dem gleichen zuversichtlichen Ton, als handle es sich um eine Veranlagung nicht für die Literatur, sondern zum Rheumatismus, und als wolle er mir dartun, daß man nicht daran stirbt." Dieser junge Mann habe "ein Werk über das Gefühl des Unendlichen am östlichen Ufer des Victoria-Nyanza-Sees" veröffentlicht und ein anderes, "mit spitziger Feder geschriebenes über das Repetiergewehr in der bulgarischen Armee..."

Mit dem Vater spricht Norpois über Geldanlagen. Die 'Komposition' eines Effektenfonds, zu der man sich gratuliert hat eine geradezu ästhetische Qualität. Man verfolgt Börsenwerte wie Fortsetzungsromane und spricht davon mit "nachgenießendem Lächeln". Aber "Wie alle Besitzenden hielt er ein Vermögen für eine höchst wünschenswerte Sache, fand es aber eleganter, dem, der ein solches sein eigen nannte, nur durch ein Zeichen kaum merklichen Einverständnisses zu gratulieren; da er andererseits selbst kolossal reich war, hielt er es für taktvoll, die noch so bescheidenen Einkünfte eines anderen beachtenswert zu finden, wobei er in Gedanken dann mit einem behaglichen Gefühl zu seinen eigenen soviel bedeutenderen zurückkehrte." Ach, die wenigen Bekannten, die finanziell tiefer in Tinte stecken, als wir, sie wissen gar nicht, wieviel sie für unser behagliches Gefühl leisten. Der Anblick der Aktien, die der Vater hervorholt, bezaubert Marcel: "Alles, was aus einer gleichen Zeit stammt, hat eine Familienähnlichkeit; die gleichen Künstler, die die Gedichtbände einer Epoche illustrieren, werden auch von den Finanzgesellschaften beschäftigt. Und nichts erinnert mehr an alte Lieferungen von Notre-Dame de Paris oder die Werke Gérard de Nervals, wie ich sie noch an dem Schaufenster der Gemischtwarenhandlung in Combray fand, als – in ihrer vignettengeschmückten, rechteckigen, von Flußgöttern gehaltenen Umrahmung – eine Aktie, die auf den Namen der 'Gesellschaft für Wasserwirtschaft' ausgestellt war."

Was Norpois über Politik redet, kann den kleinen Marcel nicht begeistern. "Ich stellte nur fest, daß in der Politik das Wiederholen dessen, was alle Menschen denken, offenbar kein Zeichen von Mittelmäßigkeit, sondern von Überlegenheit ist." Das ist das Problem, ein Volk, das sich keine Exzentriker in die Regierung wählt, sondern Abgesandte der Mehrheitsmeinung, wird irgendwann selbst das Interesse an seiner Politik verlieren.

Und nun läßt Norpois fallen, daß er neulich statt "beim Bankett des Außenministeriums" bei einer Madame Swann gespeist hat. Für Marcels Eltern ein kleiner Skandal. "Meine Mutter verbarg ein leichtes Erschrecken, denn da sie mit ihren Gefühlen rascher reagierte als mein Vater, regte sie sich seinetwegen häufig über etwas auf, was ihn selber erst später berührte. Die Unannehmlichkeiten, die ihm zustießen, wurden zunächst von ihrem Bewußtsein registriert, so wie die schlechten Nachrichten, die Frankreich betreffen, im Ausland eher bekannt werden als bei uns." So sind sie, unsere Ehefrauen, sie kennen ihre Männer so gut, daß nicht viel fehlt, und sie werden irgendwann zu ihnen sagen: Wolltest du nicht heute sterben?

Verlorene Praxis: - Mütter, die voller Hochachtung für die Beschäftigungen des Vaters schüchtern fragen kommen, ob sie auftragen lassen können.

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