Schmidt liest Proust
Freitag, 11. August 2006

Lot-Air Odessa-Warschau - S. 482-506

Abschied vom Land der Hockenden. Nur hier und in Rußland habe ich diese Haltung so oft gesehen, überall wurde gehockt, alleine oder gemeinsam, nebeneinander oder gegenüber, zum warten, rauchen, oder Bier trinken. Andere Eigenarten dieser Region: bunt angestrichene Klettergerüste, die aussehen, wie Anlagen zum Kosmonautentraining. Überhaupt die Tendenz, Metall zu bemalen. Auch daß der Deckel, wenn man sich die Bierflasche im Laden öffnen ließ, immer auf der Flasche liegengelassen wurde, hat sich mir nicht erklärt. Die Frage, ob die Art der russischen Männer ein Ergebnis der Nachfrage durch die russischen Frauen sind, oder umgekehrt, konnte mir niemand beantworten. Beide scheinen jedenfalls nicht zusammenzupassen. In der Zeitung stand, die Kürze der Miniröcke erkläre sich mit dem Frauenüberschuß, durch den unter den Frauen verstärkte Konkurrenz herrsche. Aber kann man für alle Fische den gleichen Köder benutzen? Was ist, wenn man sich einen wie Marcel fangen will, der sich daran freut: "...wie zauberhaft Madame Swann mit einer schlichten mauvefarbenen Kapotte oder einem kleinen Hut aussah, den nur eine einzige aufwärts gerichtete Irisblüte überragte." Aber vielleicht hat der Minirock ja alle anderen verführenden Nuancen in der Kleidung nivelliert.

S. 482-506 "Als die Stunde der Briefbestellung kam, sagte ich mir an diesem Abend wie an allen anderen: 'Ich bekomme sicher einen Brief von Gilberte, sie wird mir endlich sagen, daß sie nie aufgehört hat, mich zu lieben, und mir erklären, aus welchem geheimnisvollen Grund sie gezwungen war, es mir bisher zu verbergen und so zu tun, als könne sie glücklich sein, ohne mich zu sehen, und weshalb sie die Rolle einer Gilberte gespielt hat, die nichts weiter als eine Spielkameradin ist.'" Bisher haben die Gilbertes dieser Welt noch immer versagt, den Marcels die ihnen zustehenden Briefe zu schreiben. Marcel überlegt sich den Text des Briefs, den er erhalten will, selbst, und erschrickt, weil er ja nur durch einen großen Zufall genau diesen perfekten Brief von ihr bekommen könnte, den er in Gedanken verfaßt hat (wie würde eine Frau wohl reagieren, wenn man ihr beim schreiben der Briefe an einen helfen würde, damit sie nicht so peinlich klingen?) Weil er ihrem Vater gleichen will, zupft er sich dauernd an der Nase und reibt sich die Augen, am liebsten wäre er so kahl, wie Swann, kleine Jungs sind schon seltsam. Er stellt sich vor, wie "...eines Tages Gilberte in meinem allzu bekannten und darob verachteten Leben als eine demütige Dienerin, eine bequeme und tröstliche Mitarbeiterin mir des Abends bei meiner Arbeit helfen und für mich Zeitschriften durchsehen könnte." Welche Frau hätte nicht davon geträumt, für ihren Mann abends Zeitschriften durchzusehen. Wer Gilbertes Mutter ist, wird ganz nebenbei und kurz vor Schluß auch noch enthüllt, nämlich Odette de Crécy, die Frau, bei der man sich, wenn man ihr im Bois begegnet, zuraunt: "Ich erinnere mich, ich hatte sie an dem Tage, als Mac-Mahon demissionierte." Er hat sie also doch noch geheiratet, ein echter Knalleffekt.

Und wieder wird seitenlang mit Worten gemalt, der Herbst in dem eine orange leuchtende Reihe Kastanien "...wie in einem erst angefangenen Bild allein von dem Künstler fertiggestellt zu sein [scheint], der das übrige noch nicht in Farben angelegt hatte..." Die Schönheit der Fichten und Akazien des Bois de Boulogne ist für Marcel verwirrender als die der Kastanien und Fliederbüsche des Trianon, aber man stöhnt unter der Last solcher Informationen. Doch die Zeiten haben sich geändert. In der Gegenwart des Erzählers sind statt Kutschen jetzt "nur noch Automobile da, von bärtigen Mechanikern gelenkt..." (immerhin noch von bärtigen Mechanikern, denkt man, und nicht von kahlköpfigen Gerüstbauern) "An Stelle der schönen Roben, in denen Madame Swann wie eine Königin aussah, sah ich nur griechisch-angelsächsische Tuniken nach dem Vorbild der Tanagrafiguren, manchmal auch im Directoirestil, aus gerafftem Libertychiffon, mit Blumen übersät wie eine Zimmertapete." Einer der Sätze, bei denen man sich verloren fühlt, wie bei der Nacherzählung einer Modenschau. Bei der Gegenwart gibt er sich weniger Mühe, findet aber dadurch nur um so eindringlichere Sätze: "Es waren Durchschnittsfrauen, deren Eleganz mich nicht überzeugte und deren Toiletten mir unbedeutend schienen."

Verlorene Praxis: - Sich lange mit einer Frau unterhalten, während ihr und der eigene Wagen im Schritt folgen.

  • Zurückblicken, um seinen Windhund zu rufen.

Unklares Inventar: - Philipp VII.

  • Eine Toque.
  • Ampelopsis.

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Last update: 14.08.11, 11:14 Mehr über Jochen Schmidt
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