Schmidt liest Proust
Freitag, 4. August 2006

Odessa, Uspenskaja 13 - S.335-355

Gogol soll nach einer enttäuschenden Ehe sein Leben lang vergeblich versucht haben, Mönch zu werden. Außerdem besaß er ein zweiflügliges Anwesen, wenn Gäste kamen, verschwand er heimlich im anderen Flügel. Er litt unter depressionsbedingtem tagelangen, lethargischem Schlaf. Gerüchteweise soll er lebendig begraben worden, oder aber beim Abnehmen der Totenmaske erstickt worden sein. Ein neuer Punkt für meine Liste enttäuschender Todesarten.

Die folgenden 20 Seiten werfen die Frage auf, was man eigentlich verpaßt, wenn man Gogols Beispiel folgend Mönch wird. Man zieht ja auch nicht mehr freiwillig in den Krieg, als gehöre das zum Menschsein dazu, warum läßt man sich also noch mit Frauen ein? Das Eifersuchtsszenario, das Proust beschreibt, hat man bis ins Detail selbst erlebt, erstaunlich, daß Proust das vor 90 Jahren schon so genau voraussehen konnte. Alles hat sich genauso abgespielt, nur daß man heute nicht mehr "nach einem Telegraphenbüro" sucht, sondern eine SMS schreibt. Nach einem Ausflug steigt Odette nicht in Swanns Wagen, sondern zu den Verdurins, wo neben Monsieur de Forcheville "noch ein Plätzchen frei ist". Swann geht zu Fuß durch den Bois und spricht laut mit sich selbst. Er verflucht die Verdurins, stellt fest, wie dumm und gewöhnlich Odette ist und daß er etwas besseres ist als sie. Die Welt sollte so züchtig sein, wie von Platon gefordert. Als Odette das nächste mal in eine minderwertige Oper gehen will, beleidigt er sie auf so zugestptzte Weise, daß sie gar nicht versteht, was er meint. Immerhin: "Wenn ihr auch der eigentliche Sinn dieser Rede entging, so begriff sie doch, daß sie offenbar zu jener Art von Vorhaltungen oder Szenen gehörte, aus deren Vorwürfen und Beschwörungen sie bei ihrer Übung im Umgang mit Männern, ohne auf Einzelheiten achtzugeben, zu schließen gelernt hatte, daß diese sie ihr nicht halten würden, wenn sie nicht verliebt in sie wären, und daß sie selbst, gerade weil sie verliebt in sie waren, nicht nötig hatte, darauf einzugehen, denn sie waren es bestimmt hinterher nur noch mehr." Sie ist sozusagen ein Profi im Techtelmechtel, es ist ja auch ihr Job von dem sie lebt. Die Liebe gehört zu den Künsten, in denen man es nicht zur Meisterschaft bringt, wenn man seine Emotionen nicht zu kontrollieren weiß. Neuerdings wird Swann zu den Ausflügen der Verdurins nicht mehr eingeladen. Dann "versenkte er sich in den berauschendsten Liebesroman, den es gibt, den Fahrplan, der ihn über die Möglichkeiten, am Nachmittag, am Abend, am Morgen sogar in ihre Nähe zu gelangen, unterrichtete!" Er hat schließlich ein Recht darauf, genau dorthin zu fahren, wohin sie ihn nicht mitgenommen hat! Sollte er ihr dort über den Weg laufen, würde er sie natürlich ignorieren, sie soll nicht denken, er spioniere ihr nach. Während er wach bleibt und auf die vorbeirollenden Wagen lauscht, falls sie spät heimgekommen sein und ihn noch besuchen sollte, ist sie schon am Nachmittag gekommen, allein ins Theater gegangen und liegt bereits im Bett. Ihn zu benachrichtigen schien ihr nicht notwendig. "...in manchen Augenblicken sagte er sich dann, daß es ebenso unvernünftig sei, eine hübsche Frau in Paris allein ausgehen zu lassen, als wenn man ein Juwelenkästchen mitten auf die Straße stellt. Dann war er voller Entrüstung gegen alle Vorübergehenden, als seien sie sämtlich Diebe." Manchmal dämmert ihm, daß die Zeit, die sie ohne ihn verbringt gar keine "erschreckende und übernatürliche Welt" war, sondern ganz banal. "Wenn er sein Leiden so sachlich beobachtete, als habe er es sich zu Studienzwecken selber durch Impfung beigebracht, mußte er sich sagen, daß er, einmal geheilt, alles, was Odette beträfe, als gleichgültig ansehen werde." Das klingt doch, als sei noch nicht alles verloren fuer ihn. Aber nein, denn: "...aus dem Grunde seines krankhaften Zustandes heraus fürchtete er wie den Tod eine solche Heilung, die in der Tat das Ende von allem bedeutet hätte, was er im Augenblick war." Odette will "eine Saison in Bayreuth mitmachen", und er bietet ihr an "eines der hübschen Schlösser des Königs von Bayern in der Umgebung" zu mieten. Und was macht sie? Sie schreibt ihm, ob er ihr das nötige Geldschicken könnte, damit sie die Verdurins und deren Freunden dorthin einladen koenne, sie wolle sich auch einmal bei ihnen erkenntlich zeigen. Davon, dass er mitkommen koennte ist nicht die Rede. Was fuer ein Miststueck!

Unklares Inventar: "... in der Kirche von Brou die Initialen Philiberts des Schönen mit denen der Margarete von Österreich, die sie aus Trauer um ihn überall miteinander verflocht." Brou?

  • Der "Bal des Incohérents".

Verlorene Praxis: Ihr am folgenden Morgen "die schönsten Juwelen zuschicken."

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