Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 3. August 2006
Odessa, Uspenskaja 13 - S.314-335 jochenheißtschonwer, 03.08.06, 20:43
Gestern abend auf der Deribasowskaja, der Flaniermeile von Odessa. Zu Mallorca-Musik waschen vor einem Steakhaus Mädchen im Bikini eine rosa Plastekuh. Es ist anzunehmen, daß diese Showeinlage der Popularität des Steahauses dienen soll. Dass Mädchen, die eine rosa Plastekuh waschen, ein erotisches Bild abgeben, haette man nicht geahnt, wenn man es nicht gesehen haette. Handelt es sich hierbei um einen dieser verfeinerten Genuesse, wie Swann sie liebt, oder um einen groben? Aber was ist der Unterschied zwischen fein und grob, wenn beides selten ist? S.314-335 Was steckt dahinter, wenn Männer Frauen Geschenke machen? "Im Augenblick, wenn er sie mit Geschenken überschüttete, ihr Gefälligkeiten erwies, konnte er sich auf Grund von Vorzügen, die außerhalb seiner Person lagen, nichts mit seiner Intelligenz zu tun hatten, von dem erschöpfenden Bemühen erholen, ihr durch sich selbst zu gefallen." Ich habe die Intelligenz der Frauen nie beleidigen wollen, indem ich ihnen Geschenke gemacht haette. Andererseits, vielleicht nimmt man Geschenke auch gerne an, wenn man weiss, wie verlogen sie sind? Ab und an sucht Swann nun wieder eine feinere Gesellschaft auf: "Zudem hatte ihm die lange Gewöhnung an die Welt und den Luxus gleichzeitig mit ihrer Verachtung doch auch das Bedürfnis danach eingeflößt, so daß in dem Augenblick, wo die bescheidensten Behausungen ihm genau ebenso gut erschienen waren wie die fürstlichsten Besitzungen, seine Sinne doch derartig an diese letzteren gewöhnt waren, daß er nur mit einigem Unbehagen sich die ersteren zu seinem Aufenthalt erwählt hätte." Das Dilemma des Westlers, in Osteuropa freut man sich an den durch ihren jeweils ganz individuellen Verfallsprozeß so vielfältigen Fassaden und jubelt, wenn man als Taxi einen 30 Jahre alten Wolga erwischt, aber weil man an die Welt des Luxus gewöhnt ist, landet man doch auch immer wieder bei McDonalds. Um Swann steht es schlimm, er denkt jeden Augenblick an Odette: "Er stieg in den Wagen, aber er spürte, daß dieser Gedanke mit ihm eingestiegen war und sich auf seinen Knien niederließ wie ein Lieblingstier, das man überallhin mitnimmt und das er sogar unbemerkt von den Gästen bei Tische bei sich behalten würde." Er fährt nicht mehr nach Combray, weil er Odette nicht zu Hause den Rivalen überlassen will. So richtig begehrt er sie allerdings auch erst, seit er mitbekommen hat, wie viele andere sie begehren (wieder einmal "désir triangulaire".) Außerdem ist er schon in der Beziehungsfalle, eigentlich ermüdet es ihn naemlich, sie ständig aufzusuchen, aber er darf auch nicht nachlassen, damit sie nicht denkt, er sei nicht mehr so leidenschaftlich verliebt, wie vorher. Deshalb erhöht er auch die Beträge, die er ihr schickt. Vielleicht empfiehlt es sich, aus Gründen einer Liebesökonomie, am Anfang möglichst unfreundlich und geizig zu sein, um noch Steigerungsmoeglichkeiten zu lassen? Wichtig ist auch, nicht durch seine Eifersucht den Beweis zu liefern, daß man die Frau zu sehr liebt: "...einen Beweis, der unter Liebenden denjenigen Teil, der ihn erhält davon dispensiert, auch nur genug zu lieben." Ein Plädoyer gegen Offenheit, die Liebe ist eben keine natürliche Verrichtung, sondern eine schwer zu erlernende Kampfsportart. Ein schlimmes Stadium von Eifersucht hat man erreicht, wenn man sich, wie Swann, nachträglich über die Genüsse ärgert, die einem eine Frau bereitet hat, weil einem klar wird, daß der nächste sie auch genießen wird. Wenn es ihm gelingt, an etwas anderes zu denken, und Freunde ihn wieder an das Thema erinnern: "...so genügte manchmal ein Wort, daß sein Gesicht einen veränderten Ausdruck bekam, wie das eines Verwundeten, dessen schmerzendes Glied ein Ungeschickter gedankenlos berührt." Daß die Attitüde, die in den 90ern als "Pop" galt, von der Décadence abgekupfert war, ist leider nie so klar gesagt worden. Wie Swanns Umfeld diese Haltung pflegt, zeigt dass man in ihm "in dem Maß gescheit ist, wie man an allem zweifelt und nichts als wirklich und unbestreitbar ansieht als die Neigungen jedes einzelnen." Ironie und Neigungen, während diese Attitüde bei uns der Jugend zu gehören scheint, steht sie bei Proust für erwachsenere, schon nicht mehr ganz frische Menschen: "die, anstatt das Objekt ihres Strebens aus sich heraus zu verlegen, bemüht sind, aus ihren bereits verflossenen Jahren einen festen Bestand an Gewohnheiten und Leidenschaften zu entnehmen, die sie selbst aus charakteristisch und ihrer Person inhärent betrachten können und deren Zufriedenstellung durch die Art von Dasein, das sie führen, sie bewußt im Auge behalten." (für Swann "seine Sammlungen" und "eine gute Küche", also Essen gehen und Platten sammeln.) Pop-Attitüde als Symptom geistiger Vergreisung, ob das schon einmal so beschrieben wurde? Und wer würde Proust verdächtigen, ein Ironiker zu sein? Ein Beispiel: wenn Odette lügt, gelingt es ihr auffallend tiefbetrübt auszusehen, wie die Frauengestalten von Botticelli: "Sie hatte in diesem Augenblick das niedergeschlagene, kummervolle Gesicht, das diesen Frauen das Aussehen gibt, als laste ein Schmerz auf ihnen, der zu schwer für sie ist, auch wenn sie nur einfach das Jesuskind mit einem Granatapfel spielen lassen oder zuschauen, wie Moses Wasser in einen Trog schüttet." Verlorene Praxis: - "Die Bettvorhänge zuziehen."
Unklares Inventar: "Coterie"
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