Schmidt liest Proust |
Montag, 31. Juli 2006
Odessa, Uspenskaja 13 - S.254-274 jochenheißtschonwer, 31.07.06, 15:25
Es ist ein bißchen, wie in der Kindheit, draußen scheint die Sonne, und man guckt im Ferienprogramm sowjetische Filme, in denen Jugendlichen ihre Probleme untereinander selbstaendig lösen, auch wenn ihnen ein Lehrer und ein Polizeikommissar natuerlich gerne zur Seite stehen. Eigenartigerweise haben diese traurigen Filme einen sehr lebendigen Charme, vielleicht weil die Melancholie der Hauptdarstellerin gar nichts mit dem Sujet des Films zu tun hat, sondern mit ihrem richtigen Leben. Gestern kam ein Film über eine junge Frau, die in einem Kombinat am Baikalsee arbeitet und deren Vater gestorben ist. Sie hat mehrere ernstzunehmende Bewerber, vom heimgekehrten Jugendfreund bis zum handfesten Brigadier, aber keiner kann ihr ein Laecheln aufs Antlitz zaubern, denn sie muss immer an die Worte ihres Vaters denken: "Man soll nicht sein ganzes Leben am See verbringen." Deshalb trennt sie sich schliesslich von der Heimat und den vielversprechenden Männern und geht an die Lena, um beim Bau eines Wasserkraftwerks mitzuwirken. Man braucht ein für die Gesellschaft nützliches Ziel im Leben, und das ist schon das Glück, hatte der Brigadier gesagt. Heute morgen kam dann ein aelterer Video-Clip von Groove Armada "My Friend", in dem eine Frau im Büro Unterlagen kopiert und beim Anblick der Bläschen im Wasserbecher an ihren Strandurlaub zurückdenkt, wo sie so ausgelassen mit ihren Freundinnen gefeiert hatte. Das war eigentlich eine Proustsche Absence, nur dass es bei Proust Luftblaeschen am Stengel einer Wasserrose gewesen waren, die ihn an Combray erinnert hatten. Swanns eigenartige Beziehung zu Odette. Unterwegs zum Salon, wo er sie täglich trifft, liest er mit der Kutsche eine "kleine Arbeiterin" auf, in die er verliebt ist, weil sie „so frisch und blühend“ ist, und weil "sein Liebesverlangen immer gerade in einem seinen ästhetischen Neigungen ganz entgegengesetzten Sinn orientiert war." Sie steigt aus, er geht hinauf in den Salon, wo Odette schon wartet, und der Pianist stimmt das Motiv an, das Swann so gefallen hatte, und "das gleichsam die Nationalhymne ihrer Liebe war.“ Aber so richtig begeistert er sich für Odette erst, als ihm auffällt, daß sie "auf frappante Weise der Gestalt Sephoras, der Tochter Jethros, auf einer der Fresken in der Sixtinischen Kapelle glich." Und weil Botticelli dieses Wesen angebetet und gemalt hat, fühlt er sich selbst auch auf vertrautem Terrain, weil er "sich in ihrer Beurteilung auf die Gegebenheiten einer gesicherten Ästhetik stützen konnte." Das Problem an Odette ist, daß sie es ihm gar nicht schwer macht, er sieht sie ja jeden Tag bei den Verdurins. "Um seine allzu einseitig gewordene seelische Sicht von Odette, von der er fürchtete, sie moechte ihn schließlich ermüden, etwas aufzufrischen, schrieb er ihr plötzlich einen Brief voll erfundener Vorwürfe und geheucheltem Groll, den er ihr vor dem Abendessen in ihr Haus bringen ließ." Die besonders zärtlichen Antwortbriefe, die er auf solche Aktionen hin von ihr erhaelt, bewahrt er in einer Schublade auf, zusammen mit einer verdorrten Chrysantheme, die sie ihm einmal geschenkt hatte. Trotzdem nimmt er sich immer mehr Zeit mit "der kleinen Arbeiterin", da es ihm genügt, Odette vom Salon aus nach Hause zu begleiten. Allerdings, so erwünscht diese gemeinsame Heimkehr auch ist, der Umstand, daß sie so unvermeidlich ist, weckt schon wieder ein gewisses Mißbehagen. Einmal behaelt er die kleine Arbeiterin so lange im Wagen, daß Odette schon weg ist, was ihm einen ausgesprochenen Schmerz versetzt. Er sucht sie in allen moeglichen Restaurants, ohne es eigentlich für möglich zu halten, sie zu finden. Er wird richtig rasend, obwohl er sie doch ohnehin morgen wieder sehen wird und sich ja auch absichtlich verspätet hatte, gerade weil er sie sonst unvermeidlich nach Hause begleiten wuerde. "Swann verspürte in seinem Innern einen ausgesprochenen Schmerz; er zitterte, sich um ein Vergnügen gebracht zu haben, dessen Umfang er zum ersten Male richtig ermaß, da er bislang immer die Gewißheit gehabt hatte, sie, wann er wollte, sehen zu können – ein Zustand, der bei allen Vergnügungen verhindert, daß wir sie in ihrer wahren Bedeutung erkennen." Schließlich trifft er sie zufällig doch noch an und sie steigt in seinen Wagen. Aber hier sind die heutigen 20 Seiten leider vorbei.
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