Schmidt liest Proust
Samstag, 29. Juli 2006

S.211-233

Ein Flug Ende Juli, man durchwandert die Erinnerungen an vergangene Forschungsreisen (manche nennen es Urlaub), die sich im Geist uebereinanderschichten wie Hausmuell am Boden einer Siedlungsstaette unserer Vorfahren. Reisegesten tauchen wieder auf, nur im Flugzeug schüttelt man eine Tüte Coffee-Creamer vor dem Oeffnen, um den Inhalt in einer Ecke zu stauen. Was für ein gewaltiger technischer Apparat nötig ist, um unseren Körper in eine andere Welt zu versetzen, wo man sich nur ins Bett legen müßte, um diese Aufgabe dem Geist zu überlassen, der dafür nichts als etwas Zeit benötigt.

Marcel entdeckt nun also auf dem Kutschbock die Macht der Literatur, weil seine Zeilen über die ihn aus unbekanntem Grund faszinierenden Kirchtürme "mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg zu befreien vermocht hatten, daß ich, als sei ich selber ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann." Vielleicht kommt später noch zur Sprache, was für ein gefährliches Spiel sich hier andeutet, denn, wenn man sich, indem man über die Dinge schreibt, von ihnen befreit, bleibt am Ende ja nichts mehr, was einen fasziniert. Man müßte sich also hüten, über eine Geliebte zu schreiben, auch wenn einen nichts stärker reizt. Wie funktioniert Marcels Gefühlshaushalt? Er ist abhängig von der Erinnerung, insbesondere an seine Kindheit. "Weil ich an Dinge und Wesen noch geglaubt, während ich jene Gegenden durchschritt, sind die Dinge und Wesen, die ich in ihnen kennenlernte, die einzigen, die ich heute noch ernst nehmen kann und die mir Freude schenken." Und so ist man eben dazu verurteilt, sich immer wieder mit der DDR zu befassen, wenn man 100 Jahre nach Proust und nicht in Frankreich geboren ist. "Ob nun der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir heute zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor." Dabei gab es im Osten ja nur ganz selten Schnittblumen. Heutige Apfelbäume oder Weißdorn, "knüpfen, weil sie auf der gleichen Höhe oder Tiefe mit meiner Vergangenheit gelegen sind, sofort mit meinem Herzen eine Verbindung an." Was natuerlich auch mit Plattenbauten in Sofia, Moskau oder Bukarest funktioniert, sie duerfen nur nicht stuemperhaft verhuebscht worden sein. Eine womöglich sogar bessere Kopie des Verlorenen würde einen uebrigens nicht trösten, es läßt Marcel voellig kalt, wenn: "man mich an das Ufer eines Flusses führte, wo es ebenso schöne, ja schönere Seerosen gibt aus auf der Vivonne." Sobald sich eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen läßt, bekommen die Dinge "eine größere Tiefe, eine weitere Dimension". Es ist ein eigenartiger Effekt z.B., in Steglitz zwischen Häusern zu stehen, die wie in Pankow gebaut sind, ohne daß man die geringste biographische Verbindung zu Steglitz hätte. Man muß da erst mühsam mit seinem Herzen „eine Verbindung anknüpfen“. Manchmal reicht es, daß eine Straße dort nach einer Stadt heißt, in der man schon einmal war, oder ein Restaurant wie eine frühere Freundin. Das genügt für "eine weitere Dimension". Wobei dieser Zauber "nur für mich spürbar ist", sagt Marcel. Was es schwer macht, ihn anderen Menschen zu vermitteln. Vielleicht deshalb so ein ausuferndes Romanprojekt, weil man genau weiß, daß man daran scheitern muß, seine Empfindungen zu kommunizieren und es deshalb ganz genau machen will (bzw. Zu ausfuehrlich daraus zitiert.)

"This goddamned social life" (Iggy Pop), für Marcel ist es wie ein großer Zoo, in dem man alle möglichen Erscheinungen beobachtet, z.B. die paradoxe Tatsache, daß man bei gleichgestellten oder gleichintelligenten nicht fürchten muß, sich zu blamieren, sondern bei denen, die gar nicht das eigene Niveau haben: "Swann, der einer Herzogin gegenüber schlicht und sogar etwas nachlässig auftrat, zitterte davor, verkannt zu werden, und posierte, wenn er sich dem Zimmermädchen gegenüber fand." Swann hat eine Schwäche für Frauen mit "gesunden, rosigen Körperteilen", die gar nicht dem Ideal von Tiefe und Schwermut des Ausdrucks entsprechen, die er in den Werken der Meister schätzt. Er läßt sich gerne bei minderwertigen Gesellschaften einladen, wenn ihm die dortige Köchin aufgefallen ist. Frühere Geliebte "kommen zu lassen", wäre ihm wie eine "feige Flucht vor dem Leben" erschienen. "Er baute nicht Hütten in dem, was er sich an Beziehungen geschaffen hatte, sondern schlug statt dessen lieber überall da, wo eine Frau ihm gefiel, eines jener leicht abzumontierenden Zelte auf, wie die Forschungsreisenden sie mitzuführen pflegen." Aber selbst so ein leicht abzumontierendes Zelt kann ganz schoen schwer sein, wenn man es selber schleppen muss. "Außerdem gehörte er zu der Kategorie von intelligenten Männern, die für ihr müßiges Dasein einen Trost und vielleicht auch eine Entschuldigung in der Idee suchen, daß dieser Müßiggang ihrem Geist Objekte bietet, die des Interesses mindestens ebenso würdig sind wie die, die Kunst oder Wissenschaft ihnen an die Hand geben würden, und daß das 'Leben' interessantere und romantischere Situationen mit sich bringt als alle Romane." Das Leben interessanter als Romane? Was fuer ein Selbstbetrug! Wobei man ja auch selten dazu kommt, wie Swann eine Zufallsbekannte aus der Eisenbahn mit in seine Wohnung zu nehmen, von der sich später herausstellt, daß sie "die Schwester eines der europäischen Souveräne war, in dessen Händen in diesem Augenblick alle Fäden der europäischen Politik zusammenliefen." Man beneidet Swann ein bißchen um sein "müßiges Dasein". Mit Pokerabenden und wöchentlichen Tischeinladungen, in Gesellschaften, in denen man "ein Gedeck hat". Bevor Swann dorthin aufbricht "wählte er eine Blume für sein Knopfloch aus." Während wir ein T-Shirt suchen, dessen Kragen nicht so verwaschen aussieht. Manchmal führt Swann eine Geliebte in eine dieser mondänen Gesellschaften ein, die ihn eigentlich langweilen. Aber weil seine Geliebte ihm für die Bekanntschaft mit diesen Leuten Bewunderung zollt "fand er von neuem einen Reiz an diesem mondänen Leben, dem er sonst bereits so blasiert gegenüberstand; nun aber erschien ihm die von einer darin spielenden künstlichen Flamme warm und rosig durchschimmerte Substanz jener Welt wieder schön und kostbar zugleich, da eine neue Liebe mit in sie einbezogen war." Man könnte das auch anders formulieren: weil er eine Geliebte zu Besuch hatte, "fand er von neuem einen Reiz an Berlin, dem er sonst bereits so blasiert gegenüberstand; nun aber erschien ihm die von einer darin spielenden künstlichen Flamme warm und rosig durchschimmerte Substanz jener Stadt wieder schön und kostbar zugleich, da eine neue Liebe mit in sie einbezogen war." Swann wird sich nun also in Odette verlieben, die "mit einem Genre von Schönheit begabt war, das ihn nicht eigentlich ansprach". Huetet euch vor den Frauen, die euch eigentlich nicht gefallen! Vor allem, wenn ihr in einem Alter seid, wie Swann: "Aber in dem schon etwas illusionslosen Lebensalter, dem Swann sich näherte, wo man sich damit zu bescheiden weiß, selber verliebt zu sein und nicht auf allzuviel Gegenseitigkeit zu rechnen..." "In dieser Epoche des Lebens ist man von der Liebe schon mehrmals angerührt worden; sie rollt nicht mehr aus sich selbst nach ihren eigenen unbekannten und schicksalsbedingten Gesetzen in unserem staunenden und passiv davon betroffenen Herzen ab. Wir helfen nach, wir nehmen durch Hinzuziehen der Erinnerung und durch Suggestion Fälschungen daran vor. Wenn wir eines ihrer Symptome wiedererkennen, erinnern wir uns an andere und erwecken sie selbst zum Leben in uns. Da ihr ganzes Lied in unserem Herzen eingegraben ist, haben wir gar nicht nötig, daß eine Frau uns mehr als die erste Strophe davon rezitiert, damit wir – von der Bewunderung erfüllt, die wir der Schönheit zollen – selbst die Fortsetzung finden." In dem Fall reicht es also einmal, wenn man nur die erste Strophe kennt, aber die muss man immerhin kennen.

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